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Ich war noch nie so schnell von der Schule zu Hause wie heute. Die ganze Zeit im Bus musste ich daran denken, wie Mr. Jones mich angesehen hat, und auch jetzt ist er immer noch in meinem Kopf.

Mittlerweile sitze ich zu Hause und schaue mir einen Film an, um mich abzulenken, aber immer wieder wandern meine Gedanken zu Jones. Ich sehe ihn vor mir stehen, sehe, wie er mir direkt in die Augen schaut und wie er mich anlächelt. Ich sehe nichts Anderes als ihn.
Als meine Mom am frühen Abend mit Rick nach Hause kommt, helfe ich ihr beim Ausräumen der Einkäufe und danach biete ich ihr sogar an, Abendessen zu machen.
"Oh, was ist denn heute los? Sonst kochst du doch nicht so gerne."
"Ach Mom, frag' doch nicht, sondern lass' dich einfach überraschen!" Ich lächele sie übertrieben breit an, aber sie kauft es mir ab. Es stimmt, ich hasse Kochen, weil ich es einfach nicht kann. Ich kann nicht kochen, ich kann nicht backen und deshalb drücke ich mich davor, so gut es geht. Aber heute würde ich alles tun, um auf andere Gedanken zu kommen.
Im Kühlschrank finde ich Putenfleisch, das ich in die Pfanne haue. Dann schiebe ich ein Blech mit Pommes in den Ofen. Während das Fleisch brät und die Pommes backen, schnippele ich noch einen kleinen Salat. Eine dreiviertel Stunde später steht alles fertig auf dem Tisch. Mein Dad ist inzwischen auch nach Hause gekommen. Jetzt sitzen wir alle zusammen und ich bekomme gefühlt hundert Komplimente, wie gut es schmeckt und dass ich unbedingt öfters kochen sollte. Nein, danke.
Nach dem Essen verkrieche ich mich in mein Zimmer und alles kommt wieder in mein Gedächtnis und vor mein inneres Auge. Er. Wie er mich angesehen hat. Wie nah er vor mir stand. Was er in mir ausgelöst hat. Wie mein Bauch gekribbelt hat.
Was ist bloß los mit mir?! Er ist mein Lehrer und außerdem ist er alt. Das hat Nora doch gesagt. Und Leute, die Mathe so sehr mögen, dass sie es anderen beibringen wollen, können gar nicht toll sein.

Das Wochenende vergeht viel zu schnell, genauso wie die Nacht vom Sonntag zum Montag.
Nora holt mich mit dem Auto ab, weil sie sichergehen will, dass ich zur Schule komme. Auf dem Weg dorthin schweigen wir uns an, aber es ist kein böses Schweigen, sondern in beiderseitigem Einvernehmen. Nora ist niemand, der stets und ständig erzählen muss. Wenn sie ein Thema hat, was sie interessiert oder worüber sie sich freut, dann kann sie quasseln wie ein Wasserfall, aber wenn es nichts zu sagen gibt, sagt sie auch nichts. Das mag ich an ihr.
Heute haben wir zum Glück nur einen kurzen Tag, nur 6 Stunden. Die letzten beiden Stunden davon mit Mr. Jones. Die Anderen sind heute komischerweise ganz ruhig. Zumindest bis jetzt. Keiner sagt irgendetwas. So ist es mir am liebsten, wenn niemand mich beachtet. So lange ich für sie unsichtbar bin, lassen sie mich wenigstens in Ruhe. Auch die dritte und vierte stunde verlaufen mehr oder weniger friedlich. Aber langsam wachen sie auf. Ab und zu kommt ein dummer Spruch oder eine Beleidigung. Das Gute ist, jetzt werden kaum noch Arbeiten geschrieben, das heißt es kommen zumindest keine Sprüche mehr, welche Note ich denn habe oder Ähnliches.
In der Pause vor den letzten beiden Stunden für heute sitzen Nora und ich im Raum und teilen uns eine Tafel Schokolade. Das ist schon ein kleines Ritual zwischen uns geworden. Da sich meine Klasse vor jeder Stunde so hinsetzt, wie sie will und es somit keinen festen Sitzplan gibt, sitzen wir heute ganz hinten in der Ecke am Fenster. Ganz hinten steche ich den anderen nicht so ins Auge und kann entspannt raus gucken.
"Ach Erin, was ich dir noch erzählen wollte", beginnt Nora zwischen zwei Stücken Schokolade, "ich habe letzte Woche zum ersten Mal mit diesem Typen telefoniert, weißt du, welchen ich meine?"
"Der aus dem Internet?" Sie nickt aufgeregt. Vor ein paar Wochen hat Nora in einem Chat einen Jungen kennengelernt, etwa gleichaltrig, aber etwas weiter entfernt. So wie sie immer von ihm erzählt, scheint sie ihn echt zu mögen, und ich gönne es ihr. Solange er kein pädophiler alter Mann ist, der eine falsche Identität vorgibt, freue ich mich für sie.
"Und wie ist er so?", frage ich lächelnd. Ihre Wangen sind ganz rot und sie strahlt vom einen zum anderen Ohr.
"Ach Erin, er ist so toll! Genauso nett wie beim Schreiben! Wenn es weiter so gut läuft, wollen wir uns vielleicht mal treffen. Vielleicht kannst du ja dann mitkommen. Er hat da so einen Freund, der könnte dir gefallen und der sieht auch echt gut aus!"
Woher will Nora denn wissen, welche Art Jungs mir gefällt? Über unseren Männergeschmack haben wir selten geredet.
Alle Freunde, die ich bisher hatte, kann ich an einer Hand abzählen. Außerdem ist es mindestens zwei Jahre her, seit ich meine letzte Beziehung hatte. Seither bin ich nicht sonderlich beliebt beim anderen Geschlecht.
"Ich weiß nicht..."
Mr. Jones betritt den Raum. Als er mich sieht, verziehen sich seine Lippen kaum merklich zu einem Lächeln. Doch als Nora sich zu ihm umdreht, ist in seinem Gesicht keine Emotion mehr zu sehen. Er geht zum Lehrertisch und packt seine Ordner aus.
"Scheiße, ich muss ihm ja noch meinen Krankenschein von letzter Woche geben." Seufzend stehe ich auf und gehe langsam nach vorne.
"Mr. Jones, ich... ähm... hier ist noch mein Krankenschein." Er schaut auf. Oh Gott, seine Augen.
Mit zitternder Hand halte ich ihm den Zettel hin. Er nimmt ihn entgegen.
"Geht es Ihnen wieder besser, Erin?", fragt er.
"Ja." Ich versuche, möglichst überzeugend zu klingen, aber er scheint mir nicht zu glauben. Bestimmt hat er noch das Bild im Kopf, wie ich am Freitag vor ihm stand wie ein Häufchen Elend.
"Wenn es im Laufe des Unterrichts doch nicht mehr geht, packen Sie einfach Ihre Sachen zusammen und gehen. Ich toleriere das. Und vor den Anderen werde ich nichts dazu sagen." Er lächelt mich an und mir wird warm.
Es klingelt zum Unterricht. Noch bevor alle anderen in den Raum stürmen, hocke ich schon wieder auf meinem Platz in der Ecke und versinke in mir selbst.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt