Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man stirbt, wenn man aus dem vierten Stock springt? Und wer glaubt tatsächlich, dass es ein Unfall war, wenn man mit einem Fön und einem gebrochenen Bein in einer vollen Badewanne liegt?
Ich sitze in Henrys Bad auf der Toilette. Der Raum wird nur durch das Feuerwerk draußen erhellt. Alle feiern ausgelassen und sind fröhlich und ich sitze hier und weiß nicht, ob ich verschwinden oder Henry nackt in die Arme springen soll. Vielleicht hat er ja auch die Wohnung verlassen, es ist jedenfalls verdächtig still. Als ich vom Sofa aufgesprungen bin, konnte ich noch schnell etwas zum Drüberziehen greifen, und so sitze ich nun in Henrys T-Shirt hier. Ich habe gerade fast mit meinem Lehrer geschlafen. Mit. Meinem. Lehrer. Geschlafen.
Noch immer spüre ich seine Küsse auf meiner Haut, die Bahnen, die seine Hände auf meinem Körper genommen haben. Seine Wärme. Noch immer habe ich seinen wundervollen Geruch in der Nase.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Aber ich muss irgendetwas tun. Langsam schleiche ich zur Tür und öffne sie einen Spalt. Im Fernsehen jubeln noch immer die Menschen und man hört Böller knallen. Ich trete hinaus in den Flur und suche Henry.
Da steht er. Auf dem Balkon. Als ich näher komme, kann ich erkennen, wie sich seine Muskeln anspannen. Er hat mich gehört. Ich stelle mich neben ihn und lehne mich über die Brüstung. Der Himmel leuchtet bunt in der schwarzen Nacht. Eine Weile sagen wir beide nichts.
"Es ist kalt", flüstere ich und lege eine Hand auf seinen Arm, aber irgendetwas ist jetzt anders. Er ist jetzt anders. Fast glaube ich, dass er eben vor meiner Berührung zurückgezuckt ist. Und er bestätigt meinen Verdacht.
"Erin, ich glaube, du gehst jetzt besser." Er befreit sich aus meinem Griff und rückt ein Stück von mir weg. Ich sehe, wie der Schweiß auf seiner nackten Brust schimmert.
"Ist... ist das dein Ernst?" In meinem Hals bildet sich ein riesengroßer Kloß, der mir das Reden schwer macht und meine Stimme zittern lässt.
Nicht weinen, Erin. Nicht jetzt.
"Ja. Zieh' dich an, ich bringe dich noch runter."
"Habe ich etwas falsch gemacht ...?"
Henry atmet tief durch. "Nein, aber ich glaube, ich habe gerade alles falsch gemacht. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es hätte niemals so weit kommen dürfen - ich meine, das mit dir und mir. Wir sollten uns nicht mehr außerhalb der Schule sehen."
"Henry! Glaubst du im Ernst, dass ich dir in der Schule noch unter die Augen treten könnte? Was ist denn los? Ich meine, eben war doch noch alles gut - es ist nichts passiert, was ich nicht auch gewollt hätte. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht!"
Doch es ist zu spät. In seinen Augen sehe ich, dass er es wirklich ernst meint. Ohne jegliche Emotionen sieht er mich an und hält sich krampfhaft an der Balkonbrüstung fest. Ich glaube, im nächsten Moment auf den Boden zu fallen, weil meine Beine mich nicht mehr tragen. Meine Beine und mein Herz tun auf einmal unglaublich weh und mit halb geöffneten Augen taumele ich wieder rein, in Richtung Couch, wo meine Sachen liegen. Ich klaube sie zusammen und ziehe mich hastig an. Ich fühle mich so dreckig. Mir ist schwindelig und am liebsten würde ich mich einen Augenblick setzen, aber dann würde die Situation noch unangenehmer für uns beide werden.
Reiß dich zusammen.
Henry steht schon an der Tür und hält sie mir auf. Wenig später stehen wir im Fahrstuhl und sagen kein Wort. Ich starre auf den Boden, während Henry die Etagenanzeige verfolgt - als würde sich der Fahrstuhl dadurch schneller bewegen und er mich schneller los werden.
Draußen vor dem Gebäude flackert eine Straßenlaterne.
"Komm' gut nach Hause", sagt Henry und klingt dabei erstaunlich gefasst, "und schlaf' dann gut."
"Ja, schlaf du auch gut.", antworte ich trotzig. Jetzt ist doch eh' alles egal. "Ich nehme an, wir sehen uns dann nächste Woche in der Schule."
Ich drehe mich um und zwinge mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, auch wenn ich kaum noch etwas sehen kann, denn nun strömen die Tränen wie Wasserfälle über mein Gesicht. Ich schaue mich nicht mehr nach ihm um.Wie spät ist es überhaupt? Jetzt fährt wahrscheinlich kein Bus mehr. Gut, dann laufe ich eben. Ist doch nur eine Stunde, das würde ich sogar mit zwei gebrochenen Füßen schaffen. Aber mit einem gebrochenen Herzen schaffe ich es nicht. Aber ehe mich nachher irgendein Perverser entführt und mit mir in seinem Keller komische Sachen anstellt, beeile ich mich lieber und biege um die nächste Ecke. Mit Kopfhörern in den Ohren und lauter Musik, die meine Gedanken vernebelt, geht es zumindest ein bisschen leichter.
Ich frage mich immer noch, was das heute Abend sein sollte. Und woher Henrys plötzlicher Sinneswandel kam. Als wir auf seinem Sofa lagen, wusste er doch genau, was er wollte und was er tat. Er war sich seiner Sache sicher und ich hätte ihm alles von mir gegeben. Dann kam dieser eine Moment, der ihn zum Eisklotz gemacht hat. Es war der Beginn des neuen Jahres und auf einmal war alles, was zwischen ihm und mir war, weggefegt oder mit den Silvesterraketen weggetragen in den Himmel.
Ich bemerke, wie ein Auto neben mir fährt, ganz langsam, bis es anhält. Die Scheibe geht runter.
"Du stehst auf der falschen Straßenseite. Wenn die Polizei kommt, bist du dran.", maule ich und wische mir mit dem Jackenärmel über die Wangen.
"Steig' schon ein."
Schluchzend gehe ich um das Auto herum und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen.
"Ich will nicht daran schuld sein, dass du mitten in der Nacht gekidnappt wirst."
"Ist das wirklich deine größte Sorge..." Ich sehe ihn nicht an.
"Eigentlich wollte ich sichergehen, dass du unversehrt nach Hause kommst."
"Was denn, denkst du, ich finde den Weg nicht? Ich bin alt genug, danke. Ach, weißt du was, halt einfach an. Ich laufe lieber." Provokant halte ich den Türgriff fest, aber wenn ich ehrlich bin, will ich sein Auto nie wieder verlassen.
"Du bist so stur, Erin. Wir sind gleich bei dir, da lohnt sich das Laufen gar nicht mehr."
"Henry, du brauchst jetzt nicht so tun, als würdest du dir Sorgen machen oder als würde es dich interessieren, was mit mir ist. Du hast mir eben sehr deutlich gezeigt, wo ich dir vorbeigehe. Du kannst das Schauspielern also sein lassen. Wenn du mich jetzt bitte rauslassen würdest..."
Er antwortet nicht mehr, sondern dreht nur das Radio an. Ich wische mir verstohlen über die Wangen und verschränke dann die Arme vor der Brust."Wir sind da." Tatsächlich, er muss ja gefahren sein wie ein Irrer, das waren höchstens zwanzig Minuten. Oder bin ich doch schon so weit gelaufen?
"Gut, dann noch eine wunderschöne Nacht, Mr. Jones. Oh, und ein frohes neues Jahr. Wir sehen uns in der Schule. Achso, noch was – danke für nichts!"
"Erin..." Doch ich habe schon die Autotür hinter mir zugeknallt.Meine Eltern sind noch nicht wieder zu Hause. Natürlich nicht, es ist ja gerade ein Uhr. Die sitzen wahrscheinlich noch und lachen und trinken und feiern das neue Jahr. Mich soll es nicht stören, so kann ich wenigstens in Ruhe einschlafen.
Ja ja, schön wär's. Als ich in dieser Nacht das letzte Mal auf die Uhr schaue, ist es fünf Uhr morgens und meine Eltern sind immer noch nicht zu Hause.Dank des wenigen Alkohols in der Silvesternacht bleibt mir ein übermäßiger Kater am nächsten Morgen erspart. Mit den Kopfschmerzen und den total verquollenen Augen muss ich dennoch leben. Im Halbschlaf trotte ich die Treppe hinunter, falle auf den letzten Stufen und halte mir unter dreisprachigen Flüchen und Schimpfwörtern den rechten Knöchel. Zum Glück habe ich meine Eltern nicht aufgeweckt. Langsam versuche ich, mich am Treppengeländer hochzuziehen und stelle fest, dass es doch mehr schmerzt, als ich dachte. Ich humpele in die Küche und muss mich setzen, denn bei jedem Schritt zieht der Schmerz ins ganze Bein hoch. Auf einem Bein mache ich mir eine Schale mit Cornflakes fertig und verkrieche mich wieder in mein Zimmer. Und als ich die Tür hinter mir schließe, sehe ich plötzlich wieder alles vor mir. Ich sehe, wie Henry und ich - ich meine, wie Mr. Jones und ich - halbnackt auf seinem Sofa liegen und kurz davor waren,... Und wie er mich plötzlich von sich gestoßen hat und mich eiskalt nach Hause geschickt hat. Seine pseudonette Aktion, mich auf halbem Weg mit dem Auto abzuholen, hätte er sich auch sparen können. Zumal er Alkohol getrunken hatte. Ich weiß nicht genau, was jetzt zwischen uns ist, ob wir noch zusammen sind oder ob wir es überhaupt jemals waren.
Ach, eigentlich weiß ich gar nichts.
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Don't.
Teen FictionDie 17-jährige Erin wird in der Schule stark gemobbt und leidet regelmäßig unter Panikattacken. Als dann auch noch ihre Klassenlehrerin, die ihr immer zur Seite stand, in den Mutterschutz geht, bricht für Erin eine Welt zusammen. In den Vertretungsl...