4

4 0 0
                                    

Dem Unterricht folge ich nur halbherzig. Mr. Jones wiederholt jetzt alles, was für die Prüfungen wichtig ist. Ein wenig versuche ich mitzuschreiben, bekomme aber nur die Hälfte mit und so gebe ich es nach kurzer Zeit auf. Er sieht zwischendurch immer wieder zu mir. Wenn wir irgendwelche Aufgaben lösen sollen, setzt er sich an den Lehrertisch und lehnt sich im Stuhl zurück. Und während alle anderen fleißig schreiben und nachdenken, starre ich auf die Aufgabe und überlege, wie viel man wohl als Toilettenfrau verdient. Die Zahlen und Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Verwirrt schaue ich auf Noras Blatt. Sie ist schon mit allen Aufgaben fertig und kontrolliert sie gerade nochmal. Ganz vertieft tippt sie auf ihrem Taschenrechner herum.
Ich sehe nach vorn. Mr. Jones blättert im Buch, wahrscheinlich sucht er schon die nächsten Aufgaben heraus. Plötzlich schaut er auf und guckt mich an. Sein Gesichtsausdruck wird ganz weich. Ich bekomme eine Gänsehaut. Ganz langsam öffnet er seinen Mund, so als wollte er mir etwas sagen, etwas zuflüstern, was nur ich hören kann. Ich hänge an seinen Lippen. An seinem Anblick.
"Ach Mensch, Erin, du hast ja schon wieder nichts hingeschrieben." Nora tippt mich an. Abrupt wende ich mich ihr zu.
"Ist doch egal. Ich schaffe das sowieso nicht.", flüstere ich ihr zu. Sie sieht mich bemitleidend an. Natürlich weiß sie, wie schwer mir die Schule fällt und sie tut alles, um mir zu helfen. Aber in den Prüfungen kann ich nun mal nicht von ihr abschreiben und bin auf mich allein gestellt.
"Komm, ich erkläre es dir..." Sie hält mir ihr Blatt hin und will gerade anfangen, als sie von Mr. Jones unterbrochen wird.
"So Leute, wer erläutert den Anderen die Lösung?" Wir besprechen den Lösungsweg und er klatscht uns gleich darauf Beschäftigung für den Rest der Stunde vor die Nase. Diesmal besteht Nora darauf, mit mir zusammen zu arbeiten und ich bin ihr unendlich dankbar dafür. Zwar verstehe ich nicht alles, was sie erklärt, aber wenn ich mich anstrenge und es vielleicht zu Hause nochmal durchgehe, könnte ich zumindest eine kleine Chance haben.
Als es endlich zur Pause klingelt, atme ich erleichtert auf. Nora und ich wollen gerade gehen, als Mr. Jones mich zu sich winkt. "Mrs. Whyler, könnten Sie bitte kurz hierbleiben?" Ich nicke Nora zu und sie geht schon vor auf den Flur. Jetzt sind nur noch er und ich im Raum. Ist das nicht verboten oder so?
"Kann es sein, dass Sie ein paar Probleme mit dem Unterrichtsstoff haben?", fragt er. Ach nein.
"Ähm, nein, das passt schon."
Er sieht mich ernst an. "Ich habe mir Ihre bisherigen Noten angesehen, Erin. Die sehen alles andere als passend aus, wenn ich das mal so sagen darf."
Ich sehe zu Boden. Danke, ich weiß selbst, dass ich dumm bin.
"Nora hilft mir... Ich krieg' das schon hin. Wirklich."
"Kurz vor den Prüfungen wird Ihre Freundin aber auch keine Zeit mehr haben, um Ihnen zu helfen. Und wenn es dann soweit ist, werden Sie auch nicht mehr von ihr abschreiben können. Bis hier her hat das sicherlich ganz gut geklappt, aber in einem Raum, in dem die Lehrer wie Türsteher in den Ecken verteilt stehen und euch beobachten, wird es nicht mehr ganz so leicht." Ich schaue ihn schuldbewusst an, aber in seinem Gesichtsausdruck finde ich nichts Verurteilendes oder Böses, im Gegenteil. Er strahlt eine enorme Wärme und Sicherheit aus. Ich fühle mich wohl bei ihm.
"Erin, wenn Sie möchten, kann ich Ihnen helfen. Wir könnten den ganzen Stoff noch einmal durchgehen."
"Aber im Unterricht sind doch alle anderen auch, wie wollen Sie sich da auf eine einzelne Person konzentrieren?" Jones sieht mich eindringlich an.
"Ich meine... außerhalb des Unterrichts. Das heißt, wenn Sie das möchten."
Meint er das ernst? Er will sich privat mit mir treffen? Ist das nicht verboten? Aber er sieht mich so an, als würde er es tatsächlich ernst meinen. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.
Er ist so schön.
Ich kann nicht leugnen, dass er ständig in meinen Gedanken ist.
"Ähm, also...", stottere ich, "ja, warum nicht?"
"Okay.", langsam holt er einen kleinen Zettel hervor und schreibt etwas darauf. Dann hält er mir den Zettel hin.
"Hier ist meine Handynummer. Wenn Sie eine Frage zum Unterricht haben, melden Sie sich einfach. Ich werde Ihnen gerne helfen, Erin."
"Danke." Meine Stimme zittert, genauso wie meine Hände.
Plötzlich verändert sich Mr. Jones' Gesichtsausdruck. Er sieht erschrocken aus, fast panisch. Seine Augen weiten sich und er steht ruckartig auf.
"Also, dann hätten wir das ja geklärt. Wenn Sie noch Fragen haben, klären wir diese in der nächsten Stunde. Also bis dann!" Er deutet auf die Tür und verwirrt verlasse ich den Raum.
Was war das denn jetzt? Als ich mich noch einmal umdrehe, sitzt Mr. Jones wieder am Lehrertisch und hat seinen Kopf in seinen Händen vergraben.
Nora steht in Stück von der Tür entfernt und wartet auf mich. Sie fährt mich nach Hause.
"Danke, dass du gewartet hast."
"Klar doch. Was wollte er denn von dir?" Sie nickt in Richtung des Raumes, in dem ich gerade mit Mr. Jones geredet habe, und ich spüre, wie ich rot werde.
"Ach, gar nichts. Er wollte nur wissen, wieso ich so schlecht in der Schule bin."
Nora seufzt. "Der soll sich mal runterfahren. Wir bekommen dich schon fit für die Prüfungen." Ich lächele sie schief an.
Nach dem Abendessen kann ich seine Nummer bereits auswendig. Eine Trillion Mal habe ich sie mir durchgelesen, habe den Zettel zusammengefaltet, wieder aufgefaltet, ihn in den Mülleimer geschmissen, wieder herausgeholt, ihn weggepackt und wieder hervorgeholt. Völlig fertig sitze ich am Schreibtisch.
Eigentlich warten Hausaufgaben auf mich, ein Gedicht als Übung interpretieren, aber bisher liegt das Blatt weiß wie Schnee vor mir. Ich bekomme keinen vernünftigen Gedanken zustande.
Immer muss ich an Mr. Jones denken und ich frage mich andauernd, ob ich ihm schreiben soll. Ob er das mit der Mathenachhilfe ernst gemeint hat? Hat er mir seine Handynummer wirklich nur deswegen gegeben?
Mit zittrigen Händen hole ich den Zettel hervor und tippe die Nummer in mein Handy. Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Tausend Mal verfasse ich einen Text und lösche ihn wieder.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt