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Zwei Wochen sind vergangen, seit Nora Henry und mich gesehen hat. Es fällt mir schwer, zur Schule zu gehen, denn seit jenem Tag hat Henry sich nicht mehr blicken lassen. Er hat sich krank gemeldet und reagiert auf keine meiner Nachrichten und Anrufe. Wie gerne wäre ich zu ihm nach Hause gefahren, aber Nora lässt mich kaum noch aus den Augen. Glücklicherweise hat sie auf mein Betteln hin niemandem erzählt, was sie im Kellergeschoss der Schule gesehen hat. Oft hat sie mir noch angeboten, mich zum Direktor zu begleiten und mir beizustehen, damit ich endlich den Mut finde, gegen Mr. Jones auszusagen.
Ich kann ihr die Wahrheit nicht erzählen, ich kann es einfach nicht. Und ehrlich gesagt bin ich mir mittlerweile gar nicht mehr sicher, ob zwischen Henry und mir jemals etwas gewesen ist - so, wie er mich ignoriert. Noras Hilfsangebote habe ich jedenfalls alle abgelehnt. In der Version, die ich ihr erzählt habe, hat Mr. Jones mich nur umarmt und sie hat es falsch aufgefasst. Natürlich glaubt sie mir das nicht.

Heute haben wir die letzten beiden Stunden bei Henry Mathe. Laut Schulleitung soll er wieder da sein und so sitze ich den ganzen Vormittag wie auf heißen Kohlen, rutsche unruhig auf meinem Stuhl umher und schaue immer wieder aufgeregt auf mein Telefon. Aber es zeigt mir keine Meldung von Henry an. In der Pause vor seinem Kurs schleppe ich Nora unter einem Vorwand mit raus auf den Parkplatz, nur um nach seinem Auto zu sehen. Da steht es. Ich kann den Blick nicht abwenden. Er ist hier. Er muss hier sein und das heißt, ich werde ihn gleich persönlich sehen. Zwar mit dem gesamten Kurs, aber das reicht mir. Ich muss sein Gesicht sehen, muss sehen, wie es ihm geht. Okay, wie soll es ihm schon gehen. Je näher die Mathestunde rückt, umso energischer wird Nora in ihren Hasstiraden.
"Erin, wenn er den Raum betritt, musst du mich auf meinem Stuhl festhalten... Ich schwöre, sonst platzt mir der Kragen und dann haue ich ihn weg! Dieser eklige Kerl!" Ich streichele ihr über die Schulter und versuche, sie zu beruhigen. Mit weichen Knien betrete ich den Raum. Ich muss leichenblass sein und wohl aussehen, als wäre ich einem Nervenzusammenbruch nahe, denn Nora nimmt meine Hand und führt mich behutsam zu unseren Plätzen. Es fühlt sich falsch an, jetzt in seinem Kurs zu sitzen. Ich will hier nicht sein. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, aufzustehen und wieder zu gehen, aber gerade klingelt es und Mr. Jones betritt den Raum.
"Hallo zusammen", sagt er mit kräftiger Stimme und lächelt in die Klasse. Ich glaube, mein Herz bleibt stehen, und sauge scharf die Luft ein. Es brennt in meiner Kehle. Nora sieht besorgt zu mir rüber, aber ich starre nur auf mein leeres Blatt Papier, das darauf wartet, mit Zahlen oder sinnlosen Kritzeleien gefüllt zu werden. Wenn ich ihn jetzt ansehe, wird mein Herz explodieren, da bin ich mir sicher. Sicherheitshalber verstecke ich mich hinter meinem dicken Haarvorhang und tue so, als würde ich etwas aufschreiben.

Anders als erwartet ist Henry heute total freundlich, lächelt viel und gibt sich Mühe, den gesamten Kurs in seinen Unterricht einzubeziehen. Als hätte er sich vor der Stunde alle Unterlagen aus seinem Studium durchgelesen, um sie jetzt pädagogisch korrekt umzusetzen. Wir gehen Aufgaben zur Statistik durch und ich strenge mich an, um wenigstens ein paar Punkte zu sammeln. Es gelingt mir sogar. Zusammen mit Nora rechne und rechne ich, vergleiche Daten und zeichne Diagramme. Und so schaffe ich es sogar, dem Rest des Kurses ein paar Aufgaben voraus zu sein. Nachdem meine beste Freundin mir dreimal bestätigt hat, dass meine Ergebnisse richtig sein müssen, traue ich mich, den Arm zu heben, als Henry nach der Lösung der nächsten Aufgabe fragt. Ich bin richtig erstaunt über mich selbst.
"Wer macht die nächste?", fragt Henry, während er noch Zahlen an die Tafel schreibt. Als er sich umdreht und sieht, dass nur ich mich melde, treffen sich unsere Blicke für einen Moment. Ich sehe in seinen grünen Augen alles, was er mir an jenem Tag im Keller noch sagen wollte. Dass er mir helfen will, aber nicht weiß, wie. Dass er unsere Zeit vermisst. Dass er nicht wollte, dass wir gesehen werden. Dass er nicht weiter weiß. Und als er jetzt meinen Namen ausspricht, wird das knisternde Band zwischen uns schon fast sichtbar. Langsam lasse ich meinen Finger sinken und vergesse, was ich eigentlich sagen wollte. Ich suche panisch nach dem Ergebnis auf meinem Blatt, dabei habe ich es mir doch extra rot eingekreist, um genau solch einer Situation vorzubeugen.
"Es sind dreizehn Komma acht sechs Prozent. Das Ergebnis kann allerdings verfälscht werden, wenn man die Gruppe untereinander auch nochmal aufteilt." Erleichtert darüber, dass ich einen zusammenhängenden Satz zustande gebracht habe, lehne ich mich zurück. Henry liest sich die Aufgabe durch, denkt kurz nach und lächelt mich dann professionell an. Es ist ein anderes Lächeln als das, was er mir schenkt, wenn wir alleine sind. Aber er lächelt und er sieht dabei wunderschön aus.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt