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"Wo willst du eigentlich mit mir hin? Wir sind jetzt schon fast eine ganze Stunde gefahren."
Henry grinst mich an und biegt in eine dunkle Straße ab. Okay, spätestens jetzt sollte ich aus dem Auto springen und weglaufen. Hier ist niemand, die Wohnungen in dieser Straße sind garantiert alle unbewohnt. Hier würde mich nicht mal jemand schreien hören.
Henry parkt das Auto und wir steigen aus.
Dann dämmert es mir. "Oh, ich glaube, ich weiß, wo wir sind!" Ich sehe ihn voller Vorfreude an.
"Komm', das wird dir gefallen." Natürlich, jetzt erkenne ich es. Die Straßen, die Geschäfte. Und von weitem höre ich wundervolle Musik und es strömt mir der unvergleichliche Duft von gebrannten Mandeln in die Nase. Als wir um die nächste Ecke biegen, sehe ich den großen Marktplatz, auf dem meine Eltern früher oft mit mir waren, als Rick noch nicht da war. Hier sind oft Mittelaltermärkte, diverse Musikveranstaltungen oder, wie jetzt, Weihnachtsmarkt. Es sieht aus wie im Märchen. Überall sind helle Lichter, als Ketten zwischen den Laternen gespannt oder an dem riesigen Tannenbaum, der in der Mitte des Platzes steht. In einigen der Häuser, die den Platz umringen, brennt auch noch Licht. Es sind erstaunlich viele Leute hier – mehr als früher, wie ich finde. Familien, ältere Ehepaare und auch junge Menschen, die verliebt von Bude zu Bude schlendern. Ich werfe Henry einen schnellen Blick zu.
"Und, gefällt es dir?", fragt er mich und sieht dabei mächtig stolz aus.
Ich strahle ihn an. "Natürlich gefällt es mir! Es ist wunderschön hier." Henry umfasst meine Schulter und zieht mich an sich. Sogar durch die dicke Jacke kann ich seine Wärme spüren. Er riecht gut.
Ich bin verliebt in ihn.
Ich schlinge die Arme um ihn und es ist mir egal, ob uns jeder sehen kann und ob es so aussieht, als wäre er mein Vater und ich seine Tochter. Alles, was ich spüre, sind Henrys Finger, die jetzt in meinen Haaren vergraben sind und meinen Kopf streicheln. Ich presse meine Wange gegen seine Brust und fühle, wie er mit seinen Lippen auf meinen Haaren ruht. Es ist das erste Mal, dass wir uns umarmen. Überhaupt, dass wir so viel Körperkontakt haben. Dagegen war das Händchenhalten ja gar nichts.
"Komm", flüstert Henry mir nach einer gefühlten Ewigkeit ins Ohr, "wir gehen ein Stück." Wie selbstverständlich nimmt er meine Hand. Ich folge ihm und wir schlendern an den Ständen vorbei. An jeder Ecke riecht es anders. Lebkuchen, Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, Glühwein.
An einem Stand verkauft ein älterer Mann, der aussieht wie Santa, Traumfänger in allen Farben und Größen. Ich muss unbedingt einen für Nora mitnehmen, sie steht auf solche Dinger, das hat sie mir einmal erzählt.
Ich bin so vertieft darin, den Passenden für meine beste Freundin auszuwählen, dass ich erst merke, dass Henry weg ist, als ich ihn nach seiner Meinung fragen will. Verwirrt sehe ich mich um.
Da steht er, ein paar Meter entfernt, an einer anderen Bude und unterhält sich mit der für meinen Geschmack viel zu hübschen Verkäuferin. Sie ist in seinem Alter, definitiv. Und sie punktet mit ihren üppigen Brüsten, die unschwer zu erkennen sind, auch wenn sie unter einem dicken Schal versteckt sind. Gegen sie bin ich nichts.
Die Frau unterhält sich mit Mr. Jones und lächelt sanft. Sie hält ihm ein kleines Päckchen hin und er nimmt es und steckt es in seine große Jackentasche. Dann unterhalten sie sich noch weiter. Was will er denn noch bei ihr, er hat doch schon etwas gekauft! Kennen die sich etwa? Vielleicht ist sie ja eine Ex oder so. Ich jedenfalls finde sie unsympathisch. Hat sie den Umsatz so nötig, dass sie sich an ihre Kunden ran machen muss? Ihr Geschäft mit was auch immer scheint ja nicht so gut zu laufen.
Oder vielleicht sehe ich das auch ganz falsch. Ich meine, wieso stört es mich überhaupt, meinen Klassenlehrer mit einer gleichaltrigen Frau zu sehen?
Ach ja, da war ja was.
Ich habe keinerlei Anspruch auf ihn. Er ist ein guter Bekannter und wir besuchen einen Weihnachtsmarkt. Mehr nicht. Was auch sonst?! Wir sind nicht zusammen oder sowas.
Henry verabschiedet sich von der Frau und dreht sich zum Gehen um. Jetzt nur möglichst unauffällig verhalten! Ich wende ihm meinen Rücken zu und kurze Zeit später spüre ich seine Hand auf meiner Schulter.
"Na, hast du etwas Schönes für Nora gefunden?" Er erhascht einen Blick auf mein Geschenk für sie.
"Ja." Ich gebe zu, das klang etwas zu forsch.
Wir setzen uns auf eine Bank und teilen uns eine große Tüte gebrannte Mandeln. An der ersten verbrenne ich mir gleich die Zunge. Und als wäre sie schuld daran, werfe ich der mysteriösen Verkäuferin einen bitterbösen Blick zu. Sie hat meinen Groll wahrscheinlich gar nicht bemerkt, dafür aber Henry. Er stupst mich in die Seite.
"Lass das.", fauche ich ihn an.
"Oh, was ist denn auf einmal los?" Er sieht mich überrascht und misstrauisch an.
"Hast dich ja super verstanden mit der netten Frau dort drüben.", nuschele ich und nicke in ihre Richtung. Eigentlich wollte ich diesen Satz in eine richtig schöne Gemeinheit verpacken und ihm knallhart an den Kopf ballern, aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt und drittens fallen einem die guten Sachen sowieso immer erst hinterher ein.
"Was hast du denn, ich kenne sie doch gar nicht!", lacht Henry. "Hey, bist du etwa eifersüchtig?"
Hastig schüttele ich den Kopf und schaue zu Boden.
"Na klar, natürlich bist du eifersüchtig! Ich kenne euch Frauen doch."
"Ja und sie da scheinst du besonders gut zu kennen."
Er kriegt sich nicht wieder ein, hält sich schon den Bauch vor Lachen. Er sieht so schön aus, wenn er lacht. Auch wenn ich gerade nicht mit lache - ich finde das Ganze gar nicht so lustig. Henry streicht sanft über meine Wange.
"Ach Gott. Du bist ja süß, Erin. Komm, wir gehen weiter."
Damit scheint das Thema für ihn erledigt zu sein. Na gut, dann werde ich mich jetzt auch wieder beruhigen. Ich kann ihm ja auch gar nicht lange sauer sein und außerdem ist da noch diese geheimnisvolle Sache, die er bei seiner neuen Freundin gekauft hat.

Wir drehen noch eine Runde über den Weihnachtsmarkt, aber dann wird mir allmählich kalt und wir gehen zurück zum Auto. Während der Fahrt nach Hause reden wir nicht viel.
Meine Mutter schickt mir eine SMS, dass ich nicht auf sie, Dad und Rick warten soll, es wird später.
Wie gelegen.
Als Henry vor unserem Haus anhält, ist draußen nichts mehr zu erkennen. Nur dieStraßenlaternen leuchten, gedimmtes Licht in einem schwarzen Meer. Es schneitschon wieder.
Henry schaltet den Motor aus und lehnt sich in seinem Sitz zurück.
Jetzt ist meine Chance.
"Willst du vielleicht noch mit reinkommen?"
Man sieht Henry seine Überraschung deutlich an. Aber jetzt ist ein guterZeitpunkt. Meine Eltern sind nicht da, wir hatten einen schönen Nachmittagzusammen und es ist kalt draußen. Außerdem rückt der Gedanke, dass morgenSchule ist, wieder in den Vordergrund meines Gedächtnisses, und das macht mirAngst. Ich will jetzt nicht allein sein, will, dass er noch bei mir bleibt.
Er zögert, sieht sich nervös um, als würde jeden Moment meine Familie um dieEcke kommen. Dann lächelt er zaghaft und nickt. Er fährt das Auto ein Stückweiter auf die Auffahrt und wir steigen aus und gehen zur Haustür. Während ichin meiner Tasche nach meinem Schlüssel suche, durchnässt der beharrlichfallende Schnee allmählich meine Haare. Henry bemerkt das und stellt sich sohinter mich, dass er den Schnee wie ein Schutzschild abfängt. Dabei berührt ermich mit seinem Oberkörper.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt