Ich spüre etwas warmes an meiner Wange und versuche, die Augen zu öffnen. Es geht nicht - mir tut alles weh. Mein Gesicht fühlt sich an, als hätte mir jemand direkt hineingeschlagen. Mein Brustkorb bebt und ich werde von meinem eigenen Pulsschlag geschüttelt. Tränen laufen über meine Wangen und an meinem Hals hinab.
"Es ist alles in Ordnung.", höre ich eine vertraute Stimme flüstern. Aber ich weiß ganz genau, dass gar nichts in Ordnung ist. Stück für Stück fügen sich die Bilder in meinem Kopf wieder zusammen und die Erinnerung kommt zurück. Langsam schüttele ich den Kopf, kneife die Augen so fest ich kann zusammen und will mich umdrehen, weg von ihm. Aber er hält mich zurück, ganz vorsichtig.
"Erin, mach' bitte die Augen auf." Seine Stimme klingt ruhig, aber ich bin mir sicher, dass er seine Angst nur vor mir verbergen will. Er will nicht, dass ich mitbekomme, wie verzweifelt auch er jetzt ist. Widerwillig öffne ich die Augen und erkenne verschwommen Henrys Gesicht. Auf seiner Stirn haben sich tiefe Falten gebildet. Sorgenfalten.
"Oh Gott. Du hast zu viel geweint." Mein Blick schweift suchend an ihm vorbei. Was meint er? Endlich greife ich nach meinem Handy und betrachte mich in der Reflektion. Oh. Meine Augen sehen verquollen aus und feuerrot. Die spröden Lippen sind an mehreren Stellen aufgerissen und bluten teilweise. Meine Haare sind fettig und struppig.
"Darf ich bitte duschen gehen?", ächze ich und wische mir über die Augen. Henry steht auf und lächelt mich ein wenig an.
"Ich hole dir ein Handtuch."
Die warme Dusche tut mir gut. Als ich eine dreiviertel Stunde später zu Henry in das Wohnzimmer komme, geht es mir ein bisschen besser. Er drückt mir einen Kuss aufs Haar.
"Lass' uns erst einmal etwas essen."
Wenn ich ehrlich bin, ist mir der Hunger vergangen."Kannst du mir bitte eine Entschuldigung für morgen schreiben? Du bist doch Lehrer."
"Erin, ich glaube, dass du morgen zur Schule gehen solltest. Ich gehe auch. Matthew hat schließlich nicht nur dich, sondern auch mich gesehen. Ich schlage vor, wir beide bleiben morgen nicht zu Hause." Bei dem Gedanken daran, was morgen alles passieren könnte, kommen mir schon wieder die Tränen. Henry legt einen Arm um mich. "Wenn du es nicht aushältst, fährst du nach Hause. Ob zu dir oder hier her, das bleibt dir überlassen."
Ich schaue ihn an. "Man, es ist alles meine Schuld, nur meine! Wäre ich nicht zur Tür gestürmt und hätte ich vorher durch den Spion geguckt, dann wäre das niemals passiert. Dann würden wir hier nicht sitzen wie zwei zum Tode Verurteilte. Es tut mir so leid..."
"Es konnte doch niemand ahnen, dass er als Pizzabote arbeitet." Schnell bemerkt Henry, dass er mich mit seinen Worten nicht wirklich von meiner Unschuld überzeugen kann. Er nimmt meine Hand. "Egal, was dir oder mir morgen in der Schule passiert - ich werde dich nicht loslassen. Ich werde zu dir halten, auch wenn ich das in der Schule nicht so offen zeigen kann. Ich liebe dich. Hoffentlich weißt du das."
Das Klingeln meines Handyweckers reißt mich aus einem unruhigen Schlaf. Als ich mich umwälze, sehe ich, dass Henry schon aufgestanden ist. Er steht in der Küche und macht uns ein schnelles Frühstück. Aber ich will nichts essen. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass ich gleich in der Schule sitzen werde.Nachdem ich mich angezogen und fertig gemacht habe, schreibe ich meiner Mom schnell eine Nachricht, damit sie denkt, dass alles in Ordnung ist.
7.30 am
Guten Morgen,
ich hoffe, ihr habt auch so gut geschlafen wie ich. Mein Abend mit Scott war toll. Ich melde mich später.
Hab' euch lieb.
KussDas Frühstück bekomme ich nur mühsam runter.
Bevor Henry und ich die Wohnung verlassen, nimmt er mich noch einmal fest in den Arm. Mindestens fünf Minuten bleiben wir so und sagen nichts. Seine Nähe tut mir gut und gibt mir sogar ein kleines bisschen Kraft für den Tag.
Ich setze mich in mein Auto und warte noch, bis Henry in seinem Wagen losgefahren ist. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, wieder hoch zu gehen in seine Wohnung und dort bis heute Nachmittag auf ihn zu warten.
Nein. Ich will es wenigstens versucht haben.Kurz vorm Klingeln betrete ich den Raum. Als ich möglichst leise die Tür hinter mir schließe und mich dann wieder umdrehe, um zu meinem Platz in der dritten Reihe zu gehen, sind alle Blicke auf mich gerichtet. Einige amüsiert, andere entsetzt. Aus jeder Ecke kann ich sie flüstern hören. Nur Nora sitzt da und sagt nichts. Aber ihr Blick sagt alles.
Ich setze mich neben ihr hin und packe meine Sachen aus.
"Morgen", murmele ich leise in der Angst, dass sie etwas mitbekommen haben könnte. Mrs. Hastings beginnt mit dem Unterricht.
"Wünschst du mir wirklich einen guten Morgen oder ist das auch gelogen?"
Scheiße.
"Nora, darf ich es dir erklären?" Ruckartig dreht sie den Kopf zu mir und sieht mich feindselig an.
"Du brauchst mir nichts zu erklären. Ich bin bestens informiert."
"Wer hat dich denn informiert? Matthew?" Ich riskiere einen Blick in die hinteren Reihe und sehe, dass alle mich anstarren.
"Erin, ich habe dich immer unterstützt. Ich war immer auf deiner Seite. Ich war deine beste Freundin in der ganzen Scheiße hier. Und du warst meine. Wir haben uns gegenseitig geschworen, immer ehrlich zu sein."
"Du hast ja Recht." Ich ringe um Fassung und versuche, nicht zu laut zu reden.
"Und wieso hast du mir dann nicht die Wahrheit gesagt?" Sie sieht mich traurig an. "Du weißt ganz genau, dass ich immer Verständnis für dich gehabt hätte."
"Nora, bitte versetz' dich in meine Lage. Was hätte ich denn tun sollen? Genau solch einer Situation wie jetzt wollte ich aus dem Weg gehen! Ich weiß, es klingt komisch und es ist auch eine komplizierte Geschichte."
"Ich wette, sie wäre nicht zu kompliziert gewesen, um sie mir zu erzählen. Aber jetzt weiß ich nur das, was man sich erzählt. Keine Ahnung, ob das alles so der Wahrheit entspricht oder nicht. Ist ja auch egal." Sie schreibt ein paar Worte von Mrs. Hastings mit und ich versuche, nicht loszuheulen.
"Nora..."
"Weißt du was, lass' mich bitte einfach in Ruhe. Wenn meine beste Freundin mich die ganze Zeit belügt, dann brauche ich keine beste Freundin. Nach den Prüfungen bin ich eh' hier weg und dann will ich von diesem ganzen Mist nichts mehr wissen." Sie sieht mich kurz an. "Und von dir auch nicht. Aber eine Sache will ich dir noch sagen. Was du da machst, ist gefährlich, Erin. Und ich habe Angst um dich. Ich habe mir nicht mehr so viele Sorgen gemacht, seitdem du mit Scott zusammen bist. Aber jetzt, wo ich weiß, wer das eigentlich ist, habe ich echt Angst um dich. Das solltest du wissen. Du kannst dir niemals sicher sein, was in seinem Kopf vorgeht, und du bist nicht einmal halb so stark wie er."
Das sind die letzten Worte, die sie heute mit mir spricht.
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Don't.
Teen FictionDie 17-jährige Erin wird in der Schule stark gemobbt und leidet regelmäßig unter Panikattacken. Als dann auch noch ihre Klassenlehrerin, die ihr immer zur Seite stand, in den Mutterschutz geht, bricht für Erin eine Welt zusammen. In den Vertretungsl...