30, September

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Kennst du das, wenn du eine Person so sehr vermisst, dass es weh tut? Dass es dir körperlich weh tut? Die Glieder schmerzen und das Herz sticht bei jedem Schlag.
Kennst du das, wenn du jeden einzelnen Tag an diese Person denken musst? Wenn du dir Fotos einprägst aus Angst, dass du vergessen könntest, wie diese Person aussieht. Als ob man jemals das Gesicht der Person vergessen könnte, die man liebt.
Man stirbt bei dem Gedanken daran, was die Person wohl gerade macht oder bei wem sie ist.
Jeden Abend laufen wieder die Bilder vor dem inneren Auge ab wie ein Film, den man längst auswendig kennt. Von der ersten Begegnung, den unschuldigen Blicken - dem Lächeln, das immer noch die Schmetterlinge im Bauch belebt. Die Augen, die dich in ihren Bann ziehen, von denen du dich weit davontragen lässt.
Jeder von uns hat eine Person, für die man sein Leben geben würde. Die unser Leben verändert.

Mai bis September. Fünf Monate sind eine lange Zeit. Lang genug, um zu vergessen? Nein. Lang genug, um zu verdrängen? Möglicherweise. Aber das konnte ich nicht. Das wollte ich nicht.
Fünf Monate sind eine lange Zeit. Heute vor genau Fünf Monaten wurde ich befragt zu Mr. Jones. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Erwartungsvolle Blicke, die auf mich gerichtet sind und darauf warten, ein Geständnis oder eine spannende Geschichte zu hören. Etliche Nächte habe ich davon geträumt.
Vor Fünf Monaten habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Seitdem nicht mehr. Ich habe weder sein Gesicht gesehen noch seine Stimme gehört oder seinen Geruch eingeatmet. Zwar tausend Mal in meinen Träumen, aber nie in echt. Auf unzählige SMS und Anrufe hat er nicht reagiert. Zweimal stand ich vor seiner Tür und habe geklingelt und geklopft.
Es ist viel passiert seit Mai, seit dem Tag, der alles verändert hat. Nach dem Gespräch mit den Cops und unserem Rektor ist Henry nicht mehr zur Schule gekommen.

Wider allen Erwartungen habe ich die finalen Prüfungen bestanden. Gerade so, aber das tut jetzt nichts mehr zur Sache. Letzten Monat habe ich die Zusage für ein College bekommen, und meine Eltern haben mich sogar beim Umzug unterstützt. Wir haben viel geredet und jeder hat sich mehr oder weniger mit der Situation abgefunden oder arrangiert. Vielleicht wird uns die räumliche Trennung auch gut tun. Meine neue Wohnung ist etwa eine halbe Autostunde von unserem Haus entfernt. Sogar mit Nora habe ich manchmal noch Kontakt.
Auf dem Abschlussball war ich nicht - mit wem auch - und das war in Ordnung. Mein Leben scheint sich wieder einzupegeln.

Und als ich gestern wieder Henrys Nummer gewählt habe, so wie jeden Abend seit fünf Monaten, ist er ran gegangen. Wir haben über eine Stunde lang telefoniert. Er hat einen neuen Job bei irgendeiner Bildungsbehörde. Er überarbeitet Lehrpläne und passt sie an neue Standards an. Als Lehrer findet er keine Anstellung mehr. Ist bei Gericht gerade so davon gekommen aufgrund unzureichender Beweise.
Heute sehen wir uns.
Er hat eingewilligt, sich mit mir in einem Café zu treffen. Erst einmal auf neutralem Boden, sozusagen.
Kalter, nasser Herbstwind peitscht durch meine braunen Haare und durchdringt sogar den Mantel. Es ist ungewöhnlich kalt für September. Das Café ist nur zehn Minuten zu Fuß von meiner neuen Wohnung entfernt. Vieles geht mir durch den Kopf, während ich an den Ladenzeilen vorbeilaufe. Die meisten Geschäfte fangen jetzt an, sich auf die Weihnachtszeit vorzubereiten, und von irgendwoher weht mir sogar der Duft von gebrannten Mandeln in die Nase.
Ich bin gespannt, wie er aussieht. Ob er sich verändert hat. Wie es ihm in den letzten Wochen ergangen ist. Wie es ihm jetzt geht.
Trotz Allem, was wir durchmachen mussten und was zwischen uns passiert ist, will ich meine Zukunft mit ihm verbringen. Das ist mir klar geworden. Er ist jede Sekunde des Tages in meinem Kopf.

Nur noch eine Straßenecke und ich bin da. Ich freue mich schon darauf, in die wohlige Wärme des Raumes einzutreten und meinen klammen Mantel auszuziehen.
Ich biege um die Ecke. Vor der gläsernen Eingangstür steht eine großgewachsene Person mit schwarzer Jacke und schwarzer Hose.
Der Kragen ist hochgeklappt und gibt nur einen Teil des gekerbten Gesichtes frei. Ich verlangsame meinen Schritt. Die Haut ist älter geworden, das Haar grauer. Die Ringe unter den wunderschönen Augen sind tief und dunkelblau. Aber dennoch ist es das schönste Gesicht, das ich jemals gesehen habe.
Er ist es, er ist tatsächlich gekommen. Noch scheint er mich nicht gesehen zu haben. Er schaut auf die Straße, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben und die Schultern hochgezogen. Als würde er sich in sich selbst verstecken wollen.
Mit jedem Schritt, den ich näher komme, beschleunigt sich mein Herzschlag. Ich muss an unsere Geschichte denken - an unsere erste Mathestunde bei ihm, als er mich blöd angemacht hat. Als er mich vor allen verteidigt hat. Ich denke an unseren Besuch auf dem kleinen Weihnachtsmarkt, an das Schlittschuhlaufen. An unsere Silvesternacht. An das Kribbeln im Bauch, mit dem ich jeden Morgen zur Schule gekommen bin.

Jetzt hat er mich gesehen. Er dreht sich in meine Richtung und nimmt die Hände aus den Taschen.
Er lächelt.


ENDE

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 25 ⏰

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