Die letzten Wochen waren anstrengend. Klausurvorbereitung, Lernstress und die Angst, bei den letzten Prüfungen dann doch noch zu versagen. Nora und ich haben den Unterrichtsstoff einigermaßen aufgearbeitet, sie hat sich die größte Mühe gegeben. Und was noch wichtiger ist - sie regt sich nicht mehr über die Sache mit Henry damals im Keller auf. Sie meckert nicht mehr, sie überwacht nicht mehr jeden meiner Schritte und sie hat es niemandem erzählt. Ab und zu legt sie mir noch immer ans Herz, doch mit meinem "Freund Scott" darüber zu reden. Aber darüber kann ich hinwegsehen.
Henry und ich sind vorsichtig, wann und wo wir uns treffen, und in der Schule sind wir mittlerweile Profis im Schauspielern.
Immer, wenn wir beide Zeit haben, sehen wir uns nachmittags. Meistens bei ihm zu Hause.
Mittlerweile habe ich den Schulstoff so weit aufgearbeitet, dass ich eigentlich relativ zuversichtlich in die Prüfungen gehen könnte, um meine letzten Punkte für den Abschluss zu sammeln. Vor dem Spott meiner Mitschüler bin ich aber trotzdem nicht geschützt. Solch einen Vorfall wie in Physik gab es jedoch glücklicherweise nicht mehr.
Die letzten Tage sind für mich leichter geworden, denn in nicht einmal mehr einer Woche ist mein achtzehnter Geburtstag. Klar, gesetzlich volljährig bin ich dann zwar immer noch nicht, aber seit meine Eltern mich gefragt haben, was ich mir denn wünschen würde und ich kleinlaut angemerkt habe, dass ich mich über ein eigenes Auto freuen würde, tun sie immer so geheimnisvoll und Mom wird rot, wenn ich sie darauf anspreche. Eigentlich ist ein Auto viel verlangt (vielleicht sogar zu viel?), aber es müsste ja auch kein großes sein - es geht mir nur darum, endlich unabhängig und nicht mehr auf den Bus oder Dads Auto angewiesen zu sein.
"Ach, sei doch froh; wenn du kein Auto hast, brauchst du auch nicht tanken und sparst eine Menge Geld", merkt Henry an und drückt mir eine Tasse Kaffee in die Hand. Wir sitzen auf seinem großen Balkon und genießen das warme Frühlingswetter. Zusammen mit den Temperaturen steigt auch meine Laune an. "Lass' dich doch einfach überraschen..." Henry streichelt meine Hand. "Wie soll ich mich überraschen lassen... Du weißt, dass Geduld nicht meine Stärke ist, und mein Geburtstag ist erst am Freitag... Übrigens, ich habe Nora und meinen Eltern gesagt, dass ich Freitagabend bei Scott übernachte. Wir sind also ungestört..." Unauffällig lasse ich meine Hand an seinem Oberschenkel hinaufwandern. Ich ernte einen skeptischen Blick.
"Möchtest du deinen Geburtstag nicht lieber bei Freunden und Familie verbringen?" Ich schüttele den Kopf.
"Ich will lieber bei dir sein." Dann beuge ich mich zu ihm rüber und wir küssen uns. Er hält mit einer Hand mein Gesicht fest und die andere ruht auf meinem Knie. "Ich... will nicht bis Freitag warten.", bringe ich zwischen zwei Küssen keuchend hervor und spüre dabei, wie Henry lächeln muss. Ob er mitbekommen hat, was ich meine? Denn es wundert mich, dass er so gelassen reagiert. Meine Hände gleiten unter sein Shirt und fühlen seine warme Haut.Die restlichen Tage der Schulwoche vergehen unerwartet schnell. Mittlerweile gibt es fast kein anderes Thema mehr als unsere Abschlusstests. Die Nachmittage verbringe ich jetzt bei Nora, wo wir zusammen alles immer und immer wieder durchgehen und uns gegenseitig abfragen. Ich hätte nicht gedacht, dass Nora es schafft, mich doch noch so fit zu machen, und ich bin ihr unendlich dankbar. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht, wie ich ihr jemals dafür danken soll. Ich fühle mich schlecht, weil ich sie im Grunde die ganze Zeit belüge. Jede Sekunde, in der ich ihr nicht von Henry und mir erzähle, ist eine Lüge. Das macht mich zur schlechtesten Freundin der Welt. Aber Nora lächelt, wie immer.
Freitag. Heute ist Freitag, heute ist mein achtzehnter Geburtstag. Noch vor dem Klingeln meines Weckers wache ich auf und freue mich wie ein kleines Kind. Normalerweise lege ich nicht viel Wert auf solche Tage. Eigentlich ist es ja auch nur ein Tage wie jeder andere, nur dass genau heute vor achtzehn langen Jahren meine Mom schreiend, blutend und schwitzend im Krankenhaus gelegen hat und versucht hat, mich irgendwie aus ihrem Körper zu pressen, bis sie mich schließlich in ihren Armen hielt und vor Freude weinte. Ich frage mich, was die Menschen an kleinen, mit Körpersäften vollgeschmierten Wesen, die unablässig schreien, so toll finden. Meine Babybilder ekeln mich an.
Unten steht auf dem Küchentisch eine riesige Sahnetorte, auf der eine Kerzen-Achtzehn steht. Meine Eltern gratulieren mir und umarmen mich. Moms Grinsen wird immer breiter. Unauffällig blicke ich aus dem Fenster, aber in der Einfahrt steht kein Auto, zumindest keins, was mir gehören könnte. Nur Dads Van steht draußen an der Straße. Enttäuschung macht sich breit. Okay, ich muss bescheidener sein. Allein, dass meine Eltern so geduldig mit mir sind und mir immer Verständnis entgegengebracht haben, sollte für mich Geschenk genug sein. Was bin ich für eine verwöhnte Göre...
Doch jetzt zieht mein Dad ein kleines Päckchen hinter seinem Rücken hervor, das wie eine Ringschachtel aussieht, und hält es mir hin. Während er seine Gesichtszüge noch unter Kontrolle hat, platzt Moms Grinsen fast aus allen Nähten, als wäre es zu groß für ihr Gesicht. Zögernd, aber voller Vorfreude öffne ich die kleine Box und finde darin einen Autoschlüssel und ein kleines Heftchen, auf dem "Zulassung" steht. Ungläubig sehe ich meine Eltern an.
"Ein... ein... für mich?" Mom und Dad nicken fröhlich und Mom drückt mir den Schlüssel in die Hand.
"Nun geh' schon raus und sieh' es dir an!" Ich schnappe den Schlüssel und bin schon aus der Tür. Und tatsächlich, wo eben noch alles leer und verlassen war, steht jetzt ein kleiner, roter Hyundai i10. Ich setze mich hinein, peinlichst darauf bedacht, nichts kaputt zu machen, und sehe mich um. Es ist ein Gebrauchter, das ist nicht zu übersehen, aber jetzt ist er meiner. Meiner! Ich kann es nicht glauben, dass ich jetzt ein eigenes Auto habe, und lächele stolz. Dann steige ich wieder aus und falle meinen Eltern nacheinander um den Hals.
"Ihr seid so wundervoll! Vielen, vielen Dank!"
"Jetzt brauchst du nicht mehr nach meinem Wagen betteln", sagt Dad und zwinkert mir zu.
Für Frühstück zu Hause bleibt heute keine Zeit, sodass ich auf dem Weg zur Schule (in meinem neuen Auto!) eine Banane essen muss. Nora wartet auf dem Parkplatz auf mich und als sie mich vorfahren sieht, springt sie umher wie ein aufgeregtes Kind und kommt mir entgegen gerannt. Ich habe die Autotür noch nicht einmal richtig geöffnet, da reißt sie mich an sich und drückt mich fest. Sie gratuliert mir tausend Mal und bewundert dann das Auto. Und während sie mir sagt, wie sehr sie sich für mich freut und wie ihr mein Wagen gefällt, fühle ich mich wie eine stolze Mutter, deren Kind gerade in die Schule gekommen ist.
Leider kommt jetzt der weniger erfreuliche Teil des Tages - Unterricht. Mrs. Hastings gratuliert mir im zweiten Block, aber von meinen Klassenkameraden kommt kein Wort. Wahrscheinlich können sie nicht glauben, dass ein Wesen wie ich auch einen Tag im Jahr hat, an dem es sich besser als sonst fühlt. Aber es ist mir lieber, wenn sie leise sind, als wenn sie mich überhaupt nicht in Ruhe lassen. Ich muss an die Stunde mit Rivers denken - es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter.
Von Henry habe ich heute noch nichts gehört. In der Pause habe ich ihn von Weitem gesehen, wie er sich mit einem anderen Lehrer unterhalten hat, aber es kam noch keine Nachricht von ihm. Das ist aber auch nicht schlimm, schließlich sehen wir uns heute Abend. Hoffentlich hat er es nicht vergessen. Als es nach einer Ewigkeit endlich zum Ende der letzten Stunde klingelt, soll ich noch mit zu Noras Auto kommen. Dort kramt sie unter dem Fahrersitz herum und holt ein in hübsches Geschenkpapier eingepacktes Paket hervor. Es ist nicht besonders groß und sehr flach. Ich tippe auf eine DVD oder Ähnliches.
"Mach' es auf!", drängt Nora und dabei sieht sie aus wie ein kleines Hündchen, das ein Kunststück gemacht hat und jetzt auf eine Belohnung wartet. Vorsichtig falte ich das Papier auseinander und entdecke einen weißen Bilderrahmen, in dem ein Foto von Nora und mir ist. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als wir es geschossen haben. Es war im Sommer vor einem Jahr. Nora hatte gerade ihren Führerschein bestanden und von ihren Eltern ein Auto geschenkt bekommen. Die großen Sommerferien hatten gerade begonnen und sie wollte unbedingt mit mir an einen See, etwa zwei Autostunden von zu Hause entfernt, fahren. Der Tag war fürchterlich heiß und wir sind sofort ins Wasser gesprungen. Als wir uns dann später in der Sonne trocknen ließen, hat sie das Foto gemacht. Ich muss lächeln. Das ist eine schöne Erinnerung. "Danke, mein Schatz", sage ich leise und umarme sie.Und tief, ganz tief in mir - in der hintersten Ecke meines Gewissens - steht unser Lehrer Henry Jones und wartet auf mich. Dabei trägt er ein Schild vor dem Bauch, auf dem "LÜGNERIN" steht.
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Don't.
Teen FictionDie 17-jährige Erin wird in der Schule stark gemobbt und leidet regelmäßig unter Panikattacken. Als dann auch noch ihre Klassenlehrerin, die ihr immer zur Seite stand, in den Mutterschutz geht, bricht für Erin eine Welt zusammen. In den Vertretungsl...