Die erste Pause verbringe ich alleine im Raum. Nora hat sich draußen alleine auf eine Bank gesetzt. Ich kann sie vom Fenster aus sehen. Außerdem kann ich von hier aus den großen Parkplatz sehen. Henrys Auto steht ein wenig von meinem entfernt. Er ist also noch da. Am liebsten würde ich jetzt zu ihm gehen und mich bei ihm verstecken.
Haben wir wirklich geglaubt, wir könnten unsere Beziehung zueinander vor allen geheim halten? Am Anfang war das alles noch so leicht. Sehnsüchtig denke ich an die Zeit zurück, als wir uns noch heimlich getroffen haben und er mit mir zum Weihnachtsmarkt gefahren ist und wir uns in der Schule verstohlen angelächelt haben. Ich möchte diese Tage zurückhaben und dann genau in diesem Moment verharren. Aber das geht nicht. Es wird nie wieder so sein wie in diesem Winter - im Gegenteil, ab jetzt wird alles nur noch schlimmer. War ich doch so erleichtert, die Schulzeit bald geschafft zu haben, so werden die letzten Tage und Wochen zur schlimmsten Hölle für mich. Alle werden mich auslachen. Dazu kommt, dass ich meine beste Freundin belogen habe und das hat sie nicht verdient. Ich kann völlig verstehen, dass sie jetzt enttäuscht von mir ist. Wer kann es ihr verdenken? Die ganze Zeit habe ich ihr etwas vorgespielt und sie hinters Licht geführt. Wie betrogen sie sich jetzt fühlen muss.
Im nächsten Unterrichtsblock sitzt sie zwar neben mir, redet aber kein Wort. Ich versuche auch nicht, ein Gespräch zu beginnen. Zu peinlich ist mir das Ganze. Während Mrs. Hastings' Vortrag über die neue Prüfungsverordnung an mir abprallt wie Wasser an einem Lotosblatt, sitze ich zusammengekauert auf meinem Stuhl und frage mich, wie es Henry wohl gerade geht. Soweit ich weiß, hat er jetzt bei der Unterstufe. Die werden unsere pikante Story hoffentlich noch nicht gehört haben. Von hinten trifft mich ein zusammengeknüllter Zettel am Kopf. Ich sehe, dass Nora mich aus dem Augenwinkel beobachtet. Sie sieht überrascht aus und beängstigt. Langsam falte ich den Zettel auf. Schlampe.
Ich traue mich nicht, mich umzudrehen, aber von hinten ist ein Kichern und Getuschel zu hören. Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich wische sie weg. Zu gerne würde ich mich ihnen allen zuwenden und sie anschreien, dass sie mich in Ruhe lassen sollen und dass sie sich um ihre eigenen Probleme kümmern sollen. Aber nie im Leben würde ich das wagen. Abgesehen davon hätte ich damit sowieso keinen Erfolg. Als ob sie mir nur einmal zuhören würden.
Auch die nächste Pause verbringe ich alleine. Normalerweise sitzen Nora und ich zusammen und erst zum Klingeln geht sie zu ihrem Kunstkurs.
Ich habe jetzt Physik am anderen Ende des Gebäudes. Mit gesenktem Blick husche ich über die langen Flure, als Henry meinen Weg kreuzt. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er mich an - in seinen Augen liegt eine Mischung aus Angst und dem Drang, mich sofort von hier weg zu bringen. Aber er sagt nichts. Vielleicht ist es auch besser so - wer weiß, was passieren würde, wenn man uns heute zusammen sieht. Ich möchte ihn fragen, wie es ihm ergeht und ob er heute schon auf mich angesprochen wurde. Ich möchte ihm auch von dem Zettel erzählen, den ich gerade bekommen habe. Aber meine Beine tragen mich an ihm vorbei. Wir sollten jetzt besser kein Wort wechseln.Endlich klingelt es zum Ende der letzten Stunde. Es überrascht mich, dass ich es bis zum Schluss durchgehalten habe. Eigentlich würde Nora jetzt am Tor auf mich warten, aber ihr Auto ist schon nicht mehr da.
Erleichtert stelle ich fest, dass an meinem Auto keine Kratzer von streifenden Schlüsseln sind und dass mir niemand diverse Zettel unter den Scheibenwischer geklemmt hat.
Ich beschließe, erst einmal nach Hause zu fahren und nicht zu Henry. Besser nicht noch mehr Ärger provozieren.
Zu Hause werde ich gewohnt herzlich von meiner Mom empfangen. Sie hat keinen Schimmer davon, was gerade in meinem Leben passiert. Dass alles schief läuft und ich keine Kraft mehr habe. Und ich kann es ihr nicht erzählen und Dad auch nicht. Zu groß ist meine Angst, dass sie mich dann nicht mehr als die Vorzeigetochter sehen, die ich immer für sie sein wollte.
Im Prinzip habe ich das Vertrauen aller Menschen, die mir nahe stehen, missbraucht und es fällt mir schwer, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.
Ich verschwinde in meinem Zimmer. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe, lausche ich für einen Moment. Die Stille droht mich zu überwältigen.
Eigentlich hatte ich mir ein festes Pensum für die letzten Tage vorgenommen, aber an Lernen ist jetzt nicht zu denken. Ständig kreisen meine Gedanken um Nora, um alles, was heute passiert ist und - um Henry. Bisher bin ich noch nicht dazu gekommen, ihm zu schreiben, und auch von ihm kam noch keine Nachricht. Ich beschließe, mich bei ihm zu melden. Möglicherweise wartet er ja darauf.4.00 pm
Hey, alles gut bei dir?Ich rechne nicht damit, dass er sofort antwortet, aber als nach zwei Stunden immer noch nichts kommt, fange ich an, mir Gedanken zu machen. Soweit ich weiß, hat er heute nichts vor - das heißt, er ist theoretisch zu Hause. Natürlich kann es sein, dass er Besuch hat. Meine Kehle wird ganz trocken und ich muss schlucken. Erschrocken schiebe ich den Gedanken daran, wer bei ihm sein könnte, beiseite. Nein, ich glaube nicht, dass seine "Bekannte" wieder bei ihm herum lungert, denn er hat mir die Wahrheit gesagt. Da läuft nichts.
Einerseits würde ich mir schon wünschen, dass er antwortet und mir bestätigt, dass bei ihm alles in Ordnung ist und er heute keine weiteren Schwierigkeiten hatte. Aber andererseits möchte ich nicht anhänglich wirken oder ihn einengen und deswegen ist es wohl besser, nicht nachzuhaken. Ein Klingeln unten an der Haustür lässt mich aus meinen Gedanken hochschrecken. Wer könnte das sein? Henry wohl kaum...
"Ich geh' schon!", schreie ich und stürze die Treppe hinunter. Meine Eltern sitzen vor dem Fernseher und schauen den Wetterbericht für morgen. Hastig öffne ich die Tür und draußen steht - Nora. Sie sieht nicht gut gelaunt aus und mir wird kalt.
"Hi", flüstere ich kleinlaut und will sie umarmen, aber sie weicht zurück. So unnahbar und abweisend habe ich sie noch nie erlebt; auch nicht, als wir im Streit waren. Sie scheint es wirklich ernst zu meinen, was sie heute in der Schule zu mir gesagt hat.
"Ich bin gekommen, um noch einmal mit dir zu reden. Besser gesagt, um dir ins Gewissen zu reden.", beginnt sie forsch. In ihrer Stimme finde ich nicht ansatzweise die Wärme, die dort sonst ist.
Ich biete ihr an, reinzukommen, aber sie lehnt ab.
"Hör' zu, Erin. Wir wissen beide - naja, zumindest hoffe ich, dass du es weißt -, dass deine Lüge die größte Scheiße war, die du je veranstaltet hast. Niemand ist so ehrlich wie du, also sonst. Und deswegen hat es mich so erschrocken herauszufinden, dass du mir seit allzu langer Zeit direkt ins Gesicht lügst."
"Nora, lass' uns..." Ich will sie ein zweites Mal bitten, herein zu kommen, aber sie hält die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt und schüttelt den Kopf.
"Du musst nichts sagen. Lass' mich einfach sagen, was ich dir sagen will, und dann ist's gut.", unterbricht sie mich und schafft es fast nicht, mir in die Augen zu schauen. Sie sieht so traurig aus. Ich muss durchatmen.
Nora fährt fort, als hätte sie ihren Text auswendig gelernt. "Weißt du, ich habe mich so für dich gefreut, als du erzählt hast, du hättest einen Freund. Und ich konnte auch verstehen, dass du ihn nicht sofort jedem zeigen wolltest. Ich habe gedacht, endlich ist sie glücklich."
"Das bin ich doch auch!"
"Das interessiert mich nicht mehr."
Oh, das hat wehgetan. "Ich meine, es interessiert mich schon noch, denn wir waren jahrelang die besten Freundinnen und du bist wie eine Schwester für mich. Du bist mir nicht egal, Erin, und ich habe so große Angst um dich." Ihr steigen Tränen in die Augen und sie wischt sie verstohlen weg. Ich will ihre Hand nehmen, will, dass alles wie früher ist. Will sie umarmen. Jetzt laufen über meine Wangen auch dicke Tränen.
"Du brauchst keine Angst um mich haben, Süße...", stammele ich und nehme ihre Hände. Sie lässt es zu. "Ja, es war falsch, dich anzulügen, aber verstehst du nicht, warum ich es getan habe? Absolut niemand sollte von dieser Sache erfahren! Aber wir waren uns im Klaren darüber, was wir taten, und ich bin glücklich. Ich bin gerne bei ihm."
Noras Stimme wird lauter und sie entreißt sich meinem Griff. Mittlerweile macht sie sich nicht mehr die Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten - und ich auch nicht. "Oh Gott, was hat er bloß mit dir gemacht? Du solltest dich mal reden hören! Was hat er dir versprochen, hm? Dass du gute Noten bekommst? Dass du die Prüfung bestehst?"
"Nichts davon! Er hat mir versprochen, dass er mich nicht im Stich lässt. Und weißt du was? Ich liebe ihn."
"Meine Fresse! Bist du völlig bescheuert, Erin?"
"Oh, hi No..."
"Er ist dein Lehrer!"
Ich presse mir die Hand vor den Mund. Neben mir steht Mom, die völlig überfordert zwischen Nora und mir hin und her schaut.
Bitte, lass' sie nicht alles gehört haben
"H...hallo, Mrs. Whyler.", stottert Nora und ringt sich ein Lächeln ab. Doch meine Mutter geht gar nicht darauf ein. Ihre Gesichtszüge verhärten sich und sie schiebt Rick, der gerade dazu kommt und ein Spielzeug in der Hand hält, zurück in Richtung Wohnzimmer.
"Was ist hier los?"
Ich versuche, mein Schluchzen unter Kontrolle zu kriegen und halte mich am Türrahmen fest, um nicht im nächsten Moment umzukippen. Das darf doch alles nicht wahr sein.
Hilflos schaue ich zu Nora. Doch die steht starr wie eine Statue und verzieht keine Miene. Still lässt sie ihre Tränen laufen.
"Erin, rede mit mir." Ich bekomme kein Wort raus. "Nora, dann du. Bitte."
Nora sieht mich an. "Erin, du bist wie meine Schwester und ich liebe dich. Ich will dir nur helfen." Und bevor ich sie zurückhalten oder ihr das Wort abschneiden kann, wendet sie sich meiner Mom zu und sagt monoton: "Erin schläft mit ihrem Lehrer."
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Don't.
Teen FictionDie 17-jährige Erin wird in der Schule stark gemobbt und leidet regelmäßig unter Panikattacken. Als dann auch noch ihre Klassenlehrerin, die ihr immer zur Seite stand, in den Mutterschutz geht, bricht für Erin eine Welt zusammen. In den Vertretungsl...