"Ich bin wieder zu Hause!", rufe ich in den Flur und schließe die Haustür hinter mir. Es dauert keine zwei Sekunden, bis Mom auf mich zugestürmt kommt, mit einem strahlenden, fast schon psychopatischen Ausdruck auf ihrem Gesicht.
"Erin Mäuschen, du hast uns ja gar nicht erzählt, dass du einen Freund hast!", trällert sie und reißt mich an sich. Oh nein.
"Hast du etwa am Fenster gestanden und spioniert?" Bitte nicht...
"Ach Schätzchen, ich habe nicht spioniert, ich habe euch nur zufällig gesehen! Du hast ja gar nichts von ihm erzählt!" Ja, und das sollte eigentlich auch so bleiben. Scheiße, sie hat uns gesehen. Zum Glück kennt sie die meisten meiner Lehrer nur vom Namen her.
Aber jetzt hat sie mich küssend mit dem anderen Geschlecht gesehen und ich muss mir etwas einfallen lassen. Und dabei so normal wie möglich bleiben.
"Das... geht auch noch nicht so lange. Ich wollte eigentlich noch warten, bis ich euch von ihm erzähle."
"Aber jetzt wissen wir es ja und ich bin so neugierig!" Mom scheint sich wirklich für mich zu freuen. Wenn sie wüsste, wen ich da geküsst habe.
"Magst du nicht ein bisschen über ihn reden? Komm' doch mit ins Wohnzimmer." Wir gehen durch den Flur und als wir das Wohnzimmer betreten, sehe ich, dass Dad in seinem Sessel schon schläft. Umso besser, nur noch halb so viele Fragen, die ich beantworten muss. Wir setzen uns auf das große, rote Sofa und ich lege mir eine Decke über die Beine.
So lasset das Verhör beginnen.
"Also... oh, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Ich bin ja so aufgeregt!"
"Pass auf, Mom, ich erzähle dir einfach ein bisschen, damit du nicht so viele Fragen stellen musst, okay?" So, jetzt heißt es: Kreativität beweisen. "Wir sind noch nicht sehr lange zusammen und wollen es langsam angehen. Ich habe ihn... in der Stadt kennengelernt. Er geht aufs College."
"Wie alt ist er denn?", platzt es aus Mom heraus. "Er ist ja viel größer als du. Es sah sooooo süß aus, wie er dich festgehalten hat!"
"Er ist..." Tja, gute Frage. Ich weiß nicht mal, wie alt Henry wirklich ist. "Er ist ein bisschen älter als ich. 23. Bald fertig mit dem College."
"Und wie heißt er? Ich muss ja schließlich wissen, wie ich ihn anreden soll, wenn er mal hierher zu Besuch kommt." Sie zwinkert mir grinsend zu.
"Sein Name ist... Scott." Der eine Schauspieler aus meiner Lieblingsserie heißt Scott.
"Scott, was für ein hübscher Name!" Ich seufze und mir entgleitet ein Gähnen. Mom lacht. "Entschuldige, mein Schatz, du bist sicher sehr müde nach dem langen Tag. Aber eins möchte ich dich noch fragen." Sie nimmt meine Hand und bedeckt sie mit ihrer anderen. "Weiß er von deiner... weiß er,... wie es dir in der Schule geht?" Toll, Mom. Ich habe es den ganzen Tag geschafft, nicht an die Schule zu denken. Natürlich wissen meine Eltern von der Situation, durch die unzähligen Gespräche mit unserer Vertrauenslehrerin sind sie bestens informiert.
"Ja. Und ich bin froh, ihn zu haben. Er lenkt mich ab, weißt du."
"Das freut mich, Erin. Ich bin froh, dass du jemanden in deinem Alter hast, der für dich da ist. Wenn du möchtest, kannst du ihn gerne mal mit nach Hause bringen, ich würde ihn gerne kennenlernen. Er scheint ein toller Junge zu sein. Und jetzt komm' her." Sie öffnet ihre Arme und umschließt mich in eine innige Umarmung. Dann wünscht sie mir eine gute Nacht und ich gehe hoch in mein Zimmer.
Als ich eine Viertelstunde später endlich in meinem warmen Bett liege, finde ich Zeit, auf mein Handy zu schauen.Henry, 11.31 p.m.
Ich bin zu Hause. Der Abend war schön. Ich bin froh, dich zu kennen.11.33 p.m.
Ich bin auch froh, dich zu kennen. Schlaf gut.
Ps. Meine Mom hat uns gesehen.Ich schicke die Nachricht ab und kurz darauf zeigt mein Handy einen eingehenden Anruf und Henrys Namen an.
"Wie meinst du das, sie hat uns gesehen?!" Er klingt fast panisch.
"Sie hat gesehen, wie du mich umarmt hast. Und wie wir uns geküsst haben. Als ich reingekommen bin, hat sie mich gleich verhört." Schweigen am anderen Ende der Leitung. Ich kann mir genau denken, was Henry gerade durch den Kopf geht und versuche, ihn zu beruhigen.
"Keine Angst. Sie wollte wissen, wer mein neuer Freund ist, wie er heißt, wie alt, bla bla bla."
"Und... wer ist dein neuer Freund?"
"Scott, 23, besucht das College. Ich habe ihn in der Stadt kennengelernt. Mom ist richtig begeistert von Scott und möchte ihn kennenlernen."
Ich kann ihn lächeln hören.
"Ich glaube, das wird vorerst nichts. Sie wird sich mit den Geschichten, die ihre Tochter ihr auftischt, zufrieden geben müssen."
"Ich habe ihr gesagt, dass du mir guttust."
"Tue ich das? Meiner Meinung nach übe ich eher einen schlechten Einfluss auf dich aus. Ich meine, du lügst deine Mutter an!" Ich lache leise.
Nach einer Weile gewinnt meine Müdigkeit die Überhand und Henry wünscht mir eine gute Nacht.
Das Erste, was ich am nächsten Morgen sehe, sind dicke, weiße Flocken, die auf die Straße und gegen mein Fenster fallen. In meine Bettdecke eingewickelt stapfe ich zum Fenster und schaue auf die schneebedeckten Gehwege vor unserem Haus. Es ist Weihnachtsmorgen.
Ich wuschele meine Haare in einem unordentlichen Dutt zusammen, ziehe mir eine Jogginghose und einen weiten Pullover an und gehe dann runter in die Küche, wo Rick gerade damit beschäftigt ist, mehr als drei Honey Rings auf seinen kleinen Löffel zu bekommen. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Haare und mache mir selbst eine Schüssel Cornflakes fertig.
"Wo sind denn Mom und Dad?", frage ich.
"Mommy macht draußen neues Futter in unser Vogelhaus. Ich wollte ihr helfen, aber sie hat gesagt, ich soll hier drinnen bleiben und warten, bis du wach bist."
"Und Daddy?"
Rick stützt seinen Kopf auf einer Hand ab und gähnt. "Der ist kurz weggefahren, hat Mommy gesagt."
"Bestimmt redet er jetzt noch kurz mit Santa über dich und überlegt, ob du artig genug warst, um gleich Geschenke zu bekommen."
"Natürlich war ich artig!" Gerade in diesem Moment kommt Mom zum Flur herein und zieht sich ihre Handschuhe aus. Dabei lächelt sie uns zu. "Mooooooommy! Erin hat gesagt, Daddy redet mit dem Weihnachtsmann über meine Geschenke!"
"Tja, Ricky, vielleicht tut er das ja wirklich!", antwortet Mom und zwinkert mir zu. "Hast du schon aufgegessen? Komm, wir schmücken noch ein wenig den Weihnachtsbaum, bis Dad kommt." Sie räumt Ricks Schale in die Spüle und geht mit ihm ins Wohnzimmer, wo, wie ich zugegebenermaßen jetzt erst sehe, ein großer, dunkelgrüner Tannenbaum steht. Sie müssen ihn heute früh aufgestellt haben, gestern stand er noch nicht da. Ein paar dunkelrote und goldene Kugeln hängen schon an den Zeweigen und Rick und Mom machen sich nun daran, noch kleine Figuren und sogar Lebkuchen aufzuhängen.
Nachdem ich aufgegessen habe, helfe ich den beiden, wobei ich mehr Moms Weihnachtsdeko-Kartons durchwühle, als dass ich tatsächlich behilflich bin.
Ungefähr eine halbe Stunde später kommt Dad nach Hause. Im Schlepptau hat er Grandma, die eine riesige Tasche bei sich trägt. Rick stürmt sofort auf ihn zu und zieht an seinem Jackenärmel. "Daddy, warst du bei Santa? Stimmt's, er hat gesagt, dass ich gaaanz viele Geschenke kriege!"
"Das weiß ich nicht, kleiner Mann, vielleicht war er ja schon hier und du hast ihn nur nicht gesehen?"
Rick schüttelt so heftig den Kopf, dass man denken könnte, er renkt sich gleich das Genick aus. "Nein, ich habe genau aufgepasst, Santa war nicht hier."
"Aber du warst ja nur hier unten", wirft Mom ein und bringt Rick ins Stocken, "hast du oben in deinem Zimmer nachgesehen?"
Ohne ein weiteres Wort dreht mein kleiner Bruder sich um und rennt polternd die Treppe hoch. Und während er in seinem Zimmer Kreise zieht und alles nach Geschenken absucht, verteilen unsere Eltern und Grandma jede Menge kleiner und großer bunt verpackter Kartons unter dem Baum. Auf jedem Paket steht groß und deutlich RICK.
Von oben ist ein langgezogenes, extralautes Seufzen zu hören und wenig später kommt Rick wieder zu uns ins Wohnzimmer.
"Santa war nicht in meinem... oaaaaahr, guckt mal, er war hier unten!" Er springt in Richtung Weihnachtsbaum und kniet sich vor seinen Geschenken hin. Dabei strahlt er bis über beide Ohren.
"Guck' an, der Weihnachtsmann war wohl doch bei uns, das heißt, du warst nicht so böse, dass du nichts bekommst. Na los, mach deine Geschenke schon auf.", sagt Mom und hilft Rick beim Auspacken. Mit jeder Schleife, die Rick öffnet und jedem Päckchen, das er aufmacht, wird sein Grinsen breiter. Am Ende liegt überall Geschenkpapier herum und mein Bruder weiß gar nicht, womit er zuerst spielen soll. Er robbt wie wild auf allen Vieren über den Fußboden und würde wohl am liebsten alles gleichzeitig nehmen.
Braucht ein Kind denn wirklich so viel Zeug?
"Jetzt habt ihr ihn endgültig überfordert.", flüstere ich Dad ins Ohr und er lacht.
"Schau doch mal, Erin, da liegen noch zwei Päckchen unter dem Baum...", sagt er und deutet auf zwei kleine Kartons, die einsam und allein unter dem riesigen Weihnachtsbaum liegen und darauf warten, dass jemand sie auspackt. Langsam setze ich mich auf den Laminatboden und ziehe die Schleife vom ersten Geschenk auf. Es ist ein Foto in einem Rahmen aus Holz. Auf dem Foto sind Mom, Dad und Rick zu sehen. Dad hält den Kleinen auf dem Arm und den anderen Arm hat er um Mom gelegt. Alle drei haben sich hübsch gemacht und lächeln für die Kamera. Das Foto sieht wunderschön aus.
"Das ist ja süß, danke!"
"Das ist, damit du uns nicht vergisst, wenn du ausziehst und studierst. Das zweite wird dir bestimmt noch mehr gefallen." Mom grinst und ich bin mir sicher, dass mir das zweite Geschenk tatsächlich noch besser gefallen wird.
"Oh mein Gott, wie toll!", rufe ich, als ich es ausgepackt habe, und falle meiner Mutter um den Hals. Sie haben mir einen riesigen Buchband über Musikgeschichte, Komponisten und Notenlehre geschenkt. Ich muss zugeben, ich habe schon oft genug im Internet gestöbert, daher weiß ich ungefähr, wie viel er gekostet hat. "Das... hättet ihr nicht machen müssen.", sage ich, kann aber meine Freude nicht verstecken.
"Schätzchen, wir wissen doch, wie sehr du das liebst, und da dachten wir, das wäre doch vielleicht hilfreich für's Studium. Schön, dass es dir gefällt."
"Vielen, vielen Dank!" Mit so etwas hätte ich nicht gerechnet. Dass sie mir ein Buch über die Musikwissenschaft schenken, zeigt, dass sie mich in meinem Traum, Selbiges zu studieren, unterstützen. Ich selbst habe mich nicht für diesen Studiengang beworben, weil ich immer glaubte, meine Eltern fänden das eine „brotlose Kunst".
Ich könnte platzen vor Stolz. Vielleicht sollte ich doch noch die eine oder andere Bewerbung an die Musikhochschulen schreiben...
Der Rest des Heiligabends verläuft ruhig im Familienkreis. Wir sehen uns alle zusammen Weihnachtsfilme an und lassen uns Moms köstlichen Kuchen schmecken. Es ist ein besinnlicher Nachmittag.Am frühen Abend beginnt Mom, das Abendessen fertig zu machen. Ich frage sie, ob sie Hilfe braucht, und weil sie dankend ablehnt, gehe ich bis zum Abendessen noch in mein Zimmer.
Plötzlich fällt mir ein, dass ich Henrys Geschenk noch gar nicht aufgemacht habe.
Die nächste halbe Stunde sitze ich nur da und schaue das Geschenk an, das Henry für mich hinterlassen hat. Als würde es sich irgendwann von selbst öffnen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was es sein könnte, und trotz meiner unendlichen Neugier kann ich mich nicht dazu bewegen, es aufzumachen und das Geheimnis zu lüften. Quälend langsam greifen meine Hände nach dem Päckchen, aber im letzten Moment halte ich inne. Was tue ich hier eigentlich. Es ist so absurd, was hier gerade passiert. Eine Minderjährige sitzt in ihrem Zimmer vor einem Geschenk, dass sie von ihrem Lehrer bekommen hat. Ihrem Lehrer! Ist das gesund?Ich öffne das Geschenk und mich sieht ein kleiner, plüschiger Teddybär an. Er trägt einen zusammengefalteten Zettel in der Pfote.
Wer das liest, braucht sich vor nichts mehr zu fürchten.
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Don't.
Teen FictionDie 17-jährige Erin wird in der Schule stark gemobbt und leidet regelmäßig unter Panikattacken. Als dann auch noch ihre Klassenlehrerin, die ihr immer zur Seite stand, in den Mutterschutz geht, bricht für Erin eine Welt zusammen. In den Vertretungsl...