Der Fremde in der Bibliothek

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Die Luft in der kleinen Bibliothek war erfüllt von dem sanften Duft alter Bücher, den India immer so beruhigend fand. Sie war hier, um etwas Neues zu finden, etwas, das sie für ein paar Stunden in eine andere Welt entführen würde. Das hektische Stadtleben und ihre Verpflichtungen als Studentin waren oft überwältigend, und es gab nur wenige Orte, an denen sie wirklich zur Ruhe kam. Diese Bibliothek, mit ihren hohen Regalen und der gedämpften Beleuchtung, war einer dieser Orte.

India zog ihren Schal enger um die Schultern und schritt zielstrebig in Richtung des Belletristik-Regals. Sie hatte keine genaue Vorstellung davon, was sie lesen wollte, nur, dass es sie packen sollte. Ihr Blick glitt über die Buchrücken, während sie gedankenverloren ihre Finger darüber gleiten ließ. Die weiche Stille der Bibliothek wurde nur durch das gelegentliche Umblättern von Seiten unterbrochen.

Plötzlich, während sie sich nach einem Buch streckte, spürte sie einen sanften Stoß von der Seite. Sie verlor kurz das Gleichgewicht, hielt sich aber am Regal fest. Verwirrt drehte sie sich um, um zu sehen, wer ihr so unabsichtlich in die Quere gekommen war.

„Oh, Entschuldigung," sagte eine tiefe Stimme neben ihr.

India blickte auf und sah einen jungen Mann. Er war groß, mit dunklen, aufmerksamen Augen und kurzen Locken, die unter seiner Kapuze hervorschauten. Er schien sich fast genauso erschrocken zu haben wie sie, als wäre es ihm peinlich, sie angerempelt zu haben. Doch was sie sofort bemerkte, war, dass er sie aus einem Grund länger ansah, als sie es gewohnt war. Nicht unangenehm, aber neugierig, als hätte er sie irgendwo schon einmal gesehen.

„Schon gut," sagte India und wandte sich schnell wieder den Büchern zu. Sie mochte keine unnötigen Gespräche, besonders nicht mit Fremden. Aber irgendetwas an ihm machte sie stutzig. Es war nicht nur sein Auftreten, sondern die Art, wie er in diese Bibliothek passte, als wäre er hier Stammgast – und doch hatte sie ihn hier noch nie gesehen.

„Suchst du etwas Bestimmtes?" fragte er plötzlich, seine Stimme tief und ruhig.

India war überrascht, dass er sie überhaupt ansprach. In der Bibliothek wurde selten geredet, und sie war niemand, der leicht ins Gespräch kam. Aber vielleicht war er einfach jemand, der gerne half. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken.

„Nicht wirklich", sagte sie knapp, „nur nach einem guten Buch."

Er nickte, als würde er das vollkommen verstehen. „Dann bist du hier definitiv richtig."

India wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Es war eine harmlose Bemerkung, aber irgendetwas an seinem Auftreten war... anders. Sie sah, wie er ein Buch aus dem Regal zog, es kurz betrachtete und dann zurückstellte. Es war, als ob er tatsächlich wusste, was er suchte. Vielleicht war er wirklich einer dieser Leser, die man nur selten traf, jemand, der genauso oft wie sie selbst hier war.

„Du kommst oft hierher?" fragte er plötzlich.

India spürte, wie sich ihre Augenbrauen leicht hoben. Warum interessierte ihn das? „Ja, hin und wieder. Und du?"

„Ab und zu", antwortete er, zuckte aber mit den Schultern, als wäre es ihm egal. Dann fügte er hinzu: „Es ist ein guter Ort, um abzuschalten."

Sie nickte nur. Sie wollte das Gespräch nicht fortführen, zumindest nicht jetzt. Sie hatte keine Lust, einen Nachmittag, der ihr zur Erholung diente, mit einem Fremden zu verbringen. Also nahm sie ein zufälliges Buch aus dem Regal, um ihm zu signalisieren, dass sie wieder mit sich selbst beschäftigt war.

„Das ist ein gutes Buch," sagte er, als sie es in die Hand nahm. „Hast du schon etwas von dieser Autorin gelesen?"

India sah auf das Cover, das sie gewählt hatte – ein Buch von einer Autorin, die ihr tatsächlich unbekannt war. Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Noch nicht. Aber das werde ich wohl herausfinden."

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, und India fühlte sich unwohl, weil sie das Gefühl hatte, er könnte über sie lachen – oder schlimmer, dass er sie irgendwie durchschaut hatte.

„Du wirst es mögen", sagte er schließlich, steckte die Hände in seine Jackentaschen und wandte sich langsam ab. „Viel Spaß beim Lesen."

India sah ihm nach, wie er zwischen den Regalen verschwand. Sie fühlte sich seltsam. Wer war dieser Typ, und warum hatte sie das Gefühl, dass sie ihm irgendetwas beweisen musste? Es war, als würde er sie herausfordern, ohne es überhaupt zu wollen.

Aber letztendlich zuckte sie die Schultern und entschied, dass es keine Rolle spielte. Sie war hier, um sich zu entspannen, nicht um sich über Fremde Gedanken zu machen. Und trotzdem... dieser Blick, den er ihr zugeworfen hatte, blieb in ihrem Kopf hängen. Es war nicht unangenehm, aber auch nicht gewöhnlich.

Sie schaute auf das Buch in ihrer Hand und setzte sich an einen der freien Tische. Die Seiten des Buches fühlten sich unter ihren Fingern vertraut an, auch wenn der Inhalt für sie neu war. Doch immer wieder glitt ihr Blick durch die Regale, als ob sie darauf wartete, den Fremden noch einmal zu sehen.

Vielleicht, dachte sie, würde sie ihn beim nächsten Mal erkennen. Aber wahrscheinlich war er nur einer dieser vielen Menschen, die einem begegnen und dann für immer verschwinden.

Unbekannte WegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt