Ein suspektes Geschenk

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Am nächsten Morgen wachte Ria mit den Vögeln auf. Ihr erster Gedanke galt Adele, doch die hatte sich noch nicht gemeldet, wie ihr ein Blick aufs Handydisplay verriet. Vermutlich schlief sie noch. Ihr war aber gar nicht mehr danach zumute. Voller Tatendrang schwang sie die Beine aus dem Bett - und wimmerte vor Schmerzen auf. Verflucht. Offensichtlich hatte Christian ihr nicht nur einen blauen Fleck zugefügt.

Behutsam tastete sie ihren Brustkorb ab. Wie es aussah, hatte sie eine in Mitleidenschaft gezogene Rippe. Fluchend suchte sie die Telefonnummer des nahegelegenen Krankenhauses heraus. Warum musste der Kerl auch gerade jetzt versuchen, sie herauszufordern? Und warum war sie so leichtsinnig gewesen, ihn nicht ernst zu nehmen? Ihre verfluchte Überheblichkeit.

Dank Aleixs Kontakten konnte sie direkt zur Öffnungszeit der Räume dort auftauchen. Bis dahin waren es allerdings noch knappe zwei Stunden. Die Zeit nutzte sie, um vorsichtig zu duschen, ihre Katze zu versorgen und sie ordentlich zu verwöhnen. Cora gefiel der unerwartete Überfall. Schnurrend kuschelte sie sich an ihre Herrin, bis ihr die Augen zufielen. Erst der Handywecker befreite sie aus ihrem Dämmerzustand.

Wie sich herausstellte, war ihre Rippe nur geprellt. Der Arzt verschrieb ihr Ruhe und eine ordentliche Portion Schmerzmittel. Erleichtert, dass nichts gebrochen war, entschloss Ria sich zu einem Spaziergang durch einen nahegelegenen Park. Abgesehen von einer Handvoll Hundebesitzern und Joggern kam ihr niemand entgegen. Dafür war es anscheinend noch zu früh. An einem kleinen See ließ sie sich ins noch taufeuchte Gras sinken. Was war das bloß für eine Welt, in der sie da lebte? Die Verantwortung als Clanführerin hatte sie nie gewollt. Doch wie brachte man einem Haufen Leute, die hoffnungsvoll zu einem aufsahen bei, dass man nicht der Träger ihrer Hoffnung sein wollte? Dass diese Verantwortung für jemanden wie sie viel zu viel war? Angesichts ihrer Lebenserwartung war sie doch tatsächlich noch ein Kind. So weh es ihr auch tat, Christian hatte recht. Im Vergleich zu Aleix oder Blake und Kemal war sie wirklich noch ein kleines Kind. Das änderte aber keinesfalls etwas daran, dass sie einem Sadisten wie Christian niemals die Führung ihres Clans überlassen würde. Nicht solange sie auch nur einen weiteren Atemzug tat.

Sie brauchte dringend Rat, musste mit irgendjemandem darüber reden. Aleix wollte sie nicht stören. Er sah seine Nichte ja so gut wie nie, da sollten sie die wenige Zeit gemeinsam nutzen. Und Kemal? Er hatte Blake verraten und ihr somit unsägliche Qualen bereitet. Und trotzdem duldete er ihre Anfeindungen und beharrte darauf, für sie da zu sein. Sollte sie es riskieren, ihm wieder zu vertrauen? Ein klitzekleines Bisschen?

Zögerlich durchsuchte sie ihre Handtasche nach ihrem Handy. Dabei stieß sie zufällig gegen die kleine Schachtel, die ihr zum Haupthaus geschickt worden war. Neugierig nahm sie den Karton in die Hand. Weder Poststempel noch irgendwelche Adressen waren darauf zu finden. War wohl persönlich abgeliefert worden. Aber wer sollte ihr etwas schicken? Und dann auch noch anonym.

Vorsichtig öffnete sie den dunkelblauen Karton. Der Inhalt des kleinen Pakets war erstaunlich. Ein filigranes, fein gearbeitetes Armband, dessen Glieder das gleiche Runenmuster aufwiesen wie ihr Tisch, lag auf einem wertvoll wirkenden kleinen Kissen. Darunter lugte eine kleine Ecke Papier hervor. Fasziniert nahm sie es heraus und ließ die zierlichen Glieder durch ihre Finger gleiten. Am Ende des Kettchens angelangt stutze sie. Es gab keinen Verschluss. Beide Enden wiesen weder Haken noch Ösen auf. Mit gerunzelter Stirn legte sie das Schmuckstück wieder in den Karton und zog den zusammengefalteten Zettel heraus. Die Schnörkelschrift kam ihr bekannt vor. Sie hatte sie schon einmal gelesen. Allerdings war die Tinte dieses Mal nicht blutrot, sondern von einem so tiefen Blau, wie sie es noch nie gesehen hatte. Dunkelblau wie die Nacht.

Ria,

bald hat das Warten ein Ende, dann sind Sie in der Lage Unserer Einladung Folge zu leisten. Wir freuen Uns darauf, Sie in Unserem Heim begrüßen zu dürfen. Dafür sollten Sie das Armband tragen, als Zeichen, dass sie Unserer Einladung nachkommen.

Dunkel wie die Nacht [Schattenseelen 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt