Herausgefordert

2.3K 201 38
                                    

Als Sannes Familie schließlich aufbruchsbereit war, hatte Ria alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Die Leichen waren bereits beseitigt und der Rennwagen stand abfahrbereit in der Auffahrt. Das tapfere kleine Mädchen thronte bereits in ihrem Kindersitz auf dem Beifahrersitz und spielte im schwachen Dämmerlicht begeistert mit dem Navigationsgerät herum. Ihre Eltern nahmen hinten Platz. Dort konnten beide die Ereignisse für sich selbst verarbeiten, ohne ständig für ihre Tochter da sein zu müssen. Mit einem letzten absichernden Blick aufs Haus und die Nachbarsauffahrten stieg Ria ein.

Die Rückfahrt verlief sehr ruhig, da Sanne kurz nach dem Passieren der Landesgrenze eingeschlagen war und ihre Eltern beide stumm aus ihren Fenstern starrten. Die Kleine schlief noch immer als Ria sie nach oben in ihr altes Schlafzimmer trug und liebevoll zudeckte.

„Eine turbulente Nacht." Andreas lehnte im Türrahmen und beobachtete seine Meisterin. So kalt sie Älteren und Gleichaltrigen gegenüber auch sein mochte, Kinder behandelte sie stets mit größter Vorsicht.

Mit einem schwindenden Lächeln wandte sie sich zu ihm um. Ihre Miene wurde mit jedem Wort kühler. „Pass bitte gut auf die Kleine auf, sie hat Schreckliches hinter sich. Leite bitte ihre Ummeldung in die Wege und sorge dafür, dass sie psychologische Betreuung bekommt und erst dann wieder zur Schule geht, wenn der Psychologe das abgesegnet hat. Die Mutter muss ebenfalls betreut werden." Sie klang auf einmal schrecklich müde.

Andreas nickte ernst. „Ich habe gehört, Gians Mörder sind tot?"

Ria nickte knapp. „Ja, ich habe sie erledigt. Wenn etwas ist, bin ich auf meinem Handy erreichbar. Ich geh jetzt auch nach Hause. Müde nütze ich niemandem."

Nachdenklich beobachtete der Jäger, wie die Schwarzhaarige das Anwesen verließ. Noch nie zuvor hatte sie so niedergeschlagen gewirkt. Nicht einmal als ihr Vorgänger noch am Leben gewesen war.

Auf dem Weg zurück versuchte Ria krampfhaft, sich nicht der Bilderflut hinzugeben, die am Rande ihres Bewusstseins auf sie wartete. Sie wollte sich nicht erinnern. Auf gar keinen Fall.

In ihrer Wohnung angekommen hatte sie jedoch nur kurz Zeit, sich zu duschen, bevor sie wieder zur Schule musste. Unter anderen Umständen hätte sie geschwänzt, doch sie musste sich vergewissern, dass es Adele gut ging. Bevor sie das nicht sicher wusste, würde sie nicht schlafen können.

Adele wartete in Arams Begleitung am Schuleingang auf sie. Stürmisch schloss sie Ria in ihre Arme. „Ach, ich habe dir so viel zu erzählen, aber ich fürchte, die Zeit reicht nicht aus." Sie deutete auf Aram, der mittlerweile zu ihnen aufgeschlossen hatte. „Er wollte dich kennenlernen."

Prüfend musterte Ria sein verschlossenes Gesicht. Sie glaubte das keinen Moment. Schließlich waren sie sich bereits begegnet - gestern. „Freut mich. Adele spricht nur in den höchsten Tönen von Ihnen", presste sie knapp hervor. Ihr stand ganz und gar nicht der Sinn danach, sich ihm gegenüber freundlich zu verhalten.

Aram gelang es wesentlich besser, eine freundliche Show abzuliefern. „Ich hoffe, Sie haben sich nicht allzu sehr um sie gesorgt? Sie sehen müde aus." Was für ein guter Schauspieler, dachte Ria missmutig. Würde sie es nicht besser wissen, hätte sie ihm sein Verhalten abgekauft.

Sofort fuhr Ria sämtliche Abwehrschilde hoch. Warum hatte sie sich überhaupt erlaubt, ein wenig weicher zu sein? Ein Fehler. Vor allem in seiner Gegenwart. „Es geht Sie nichts an, wie ich meine Nächte verbringe."

„Ehm", unruhig trat Adele von einem Bein aufs andere. Rias entging nicht, dass sie sich unruhig auf die Unterlippe biss. Sie ahnte, dass ihr nicht gefallen würde, was ihre Freundin zu sagen hatte. „Ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht und ich heute nicht zur Schule komme. Wegen dem Ritual. Ich rufe dich morgen früh an, dann kann ich dir alles erzählen."

Dunkel wie die Nacht [Schattenseelen 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt