Eigentlich ganz nett

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Unbemerkt von den Wachen und sonstigem herumirrenden Gesindel schaffte er es zu den Privatgemächern zu gelangen. Dort zog er sich die Kapuze seines Umhangs vom Kopf. Es war eine lange Reise gewesen. Zwar hatte er die Nachricht bekommen, dass sein Vater einen Empfang veranstaltete, doch wollte er sich die Gegenwart seiner Brüder nicht antun. Froh, dem ganzen zumindest für heute entkommen zu sein, trat er in sein Zimmer, wo er seinen Umhang achtlos über einen der Sessel warf und sich einen großen Schluck Wasser gönnte. Wie nicht anders zu erwarten, hatte das Dienstpersonal seine Räume rechtzeitig hergerichtet.

Das behaglich knisternde Feuer im Kamin geriet bei einer heftigen Windböe aus dem Rhythmus und begann bedrohlich Funken zu schlagen. Irritiert zog er die Stirn in Falten. Ein offenes Fenster? Bei diesen kühlen Temperaturen und brennendem Kamin? Verärgert zog er die Stirn kraus. Welches unfähige Dienstmädchen hatte denn hier versagt?

Seufzend schob er den sich leicht bauschenden Vorhang zurück, um das Fenster besser schließen zu können. Dabei fiel sein Blick auf das schlafende Mädchen. Sie kauerte auf der Fensterbank, mit dem Oberkörper gefährlich weit aus dem Fenster gebeugt. Lange schwarze Haare überfluteten ihre zierliche Gestalt und verwehrten die Sicht auf ihr Gesicht. Wer war sie? Eines stand jedenfalls fest: sie war keines der Mädchen, die etwas von ihm wollten. In diesem Fall hätte sie ihn halbnackt erwartet und nicht bewusstlos.

Vorsichtig zog er sie vom Fenstersims, setzte sie in den nahestehenden Sessel und schloss endlich das Fenster. Wie war sie her gekommen? Behutsam strich er ihre Haare beiseite. Dabei streiften seine Fingerspitzen die raue Haut des Mädchens. Sie war eiskalt. Zu kalt. Sanft hob er ihr Kinn an, um sie besser ansehen zu können. Betroffen registrierte er ihre leicht eingefallenen Wangen und die tiefen Ringe unter ihren Augen. Diese junge Frau war krank. Vorsichtig tastete er nach ihrem Geist und hielt verwundert inne. Das Wesen vor ihm war zutiefst erschöpft und aufgewühlt. So erschöpft, dass sie nicht mehr viel davon trennte, ihr langes Leben aufzugeben. Doch ungeachtet des ganzen Chaos, das in ihr zu toben schien, hatte sie die faszinierendste Seele, die ihm jemals begegnet war. In seinen Augen war es die Seele eines Engels. Hastig zog er sich zurück und beschränkte sich darauf sicherzustellen, dass sie die nächste Zeit überleben würde. Die Schwäche ihres Pulses war mehr als nur bedenklich. Darauf bedacht, so wenig wie möglich mit ihr in Kontakt zu kommen, versorgte er sie so schnell es ging.

Das Mädchen sicher unter unzähligen Decken in seinem Bett begraben, machte er sich auf den Weg, seinen Vater aufzusuchen. Wie nicht anders zu erwarten, traf er ihn im Thronsaal an.

„Eleasar." Auf Marjans sonst so unbewegtem Gesicht breitete sich ein ehrliches Lächeln aus. „Wie schön, dich wieder zu sehen. Wie war deine Reise?"

Desinteressiert zuckte er mit den Schultern. „Die Jäger haben sich um ihr eigenes Problem gekümmert. Da waren nur noch Leichen."

Sein Vater nickte ungeduldig. Offenbar war das keine Neuigkeit für ihn. Typisch. Er hatte seine Augen und Ohren ja auch überall.

„Möchtest du deine Brüder nicht begrüßen? Sie sind auch eben erst eingetroffen."

Eleasar schüttelte entschieden seinen Kopf. „Sie buhlen nur um meine Gunst."

„Du spielst eine wichtige Rolle in der Politik dieser Welt."

Zweifelnd sah er seinen Vater an. „Ich verstehe nicht, weshalb meine Brüder meinen, sich bei mir einschmeicheln zu müssen."

Der Vater brummte unbestimmt. „Du gedenkst in dein Zimmer zu gehen und bis zum Ball dort zu bleiben?"

Großmütig, wie er war, überhörte Eleasar den unterschwelligen Spott in der Frage. „Mir hat noch nie besonders viel an Freizeitbeschäftigungen gelegen."

Dunkel wie die Nacht [Schattenseelen 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt