Teil 1

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"Der Junge mit dem Meer im Kopf" hatte ich usprünglich als Kurzgeschichte angefangen, hatte letztendlich aber plötzlich fünfzig Wordseiten vorliegen und damit eine sehr unpraktische Zwischenlänge. Allerdings finde ich, es gehört so und nicht anders erzählt, deshalb bleibt es wohl dabei. 

Die Geschichte ist durchgängig geschrieben, der Lesbarkeit halber aber in - inzwischen hoffentlich lesbar kleine - Teile aufgeteilt. Hoffentlich gefällt sie dem einen oder anderen. Ich freue mich über Feedback! ;)


13

„Benny!"

Das Meer lag ruhig, die Wasserfläche kaum vom Wind gekräuselt, der federleicht irgendwo zwischen all dem Blau der Umgebung umherstrich.

In den ersten Rottönen des Abends strahlte die Sonne gerade warm genug, um nicht zu brennen, während der kleine Fischkutter sanft auf der Stelle schaukelte.

„Benny, komm her!"

Die weiße Farbe des Steuerhauses blätterte bereits zur Hälfte ab, und die Brüstung war fleckig von der ständigen Witterung und dem Salzwasser.

Und obwohl das Schiff seine besten Jahre wohl längst am Horizont zurück gelassen hatte, gab es nichts schöneres, als sich auf seine warmen Holzplanken zu legen und die Augen zu schließen, das Kreischen der Möwen als ständige Begleiter im Ohr.

Ella bereute es, mit ihren Rufen die beschauliche Ruhe zu stören.

„Benjamin!", rief sie ihren Bruder erneut, und wie um ihr Unbehagen über die hohe Lautstärke zu bestätigen, wehte ihr eine vorwitzige Böe eine kupferne Haarsträhne in den Mund.

„Essen ist fertig", fuhr sie leiser fort. Welchen Sinn hatte es überhaupt, zu schreien? Es war nicht so, dass der Kutter zu groß wäre, um sie an jedem Platz bei normaler Stimmlage zu verstehen. Wenn Benjamin sie hören wollte, würde er das tun.

Sie seufzte, als sie die schmale Treppe voll zum Deck emporstieg, sodass sie mehr Überblick über die kleine Fläche hatte.

Niemand zu sehen, weder rechts noch links. Oder Backbord und Steuerbord, je nachdem. Ella hatte absolut keine Ahnung von der korrekten Verwendung dieser Begriffe – oder jeglicher anderer Seemannssprache, wo sie schon dabei war.

Die Welt auf See war genauso namenlos für sie, wie die Welt an Land es für Benjamin war.

Es tat ihnen beiden gut, Abstand zu gewinnen.

Ella ging ein paar Schritte hinter das Steuerhaus, ob Benny vielleicht dort aufzufinden war, doch das Seilwerk lag unberührt da.

Sie seufzte wieder und machte auf dem Absatz kehrt.

Der Bug des Schiffes war mit alten Fässern und Kisten voll gestellt, zwischen denen sie sich erst durchkämpfen musste, bis sie ganz vorne, der Sonne zugewandt stehen konnte.

Benjamin war wieder über die Reling geklettert und saß auf dem schmalen Steg zwischen der Bordwand und dem großen, bronzenen Seepferdchen, das als Galionsfigur diente. Er hatte seine Arme auf das Tier gelegt, den Kopf schwer darauf abgestützt und den Oberkörper nach vorne gelehnt, während sein Blick weit nach draußen gerichtet war.

Er lag vollkommen still, die einzige Regung an ihm waren seine blonden Locken, die im Wind sanft waberten wie eine Staubwolke in der Wüste, so ironisch dieser Vergleich auch mitten auf See war.

Hätte Ella es nicht besser gewusst, sie hätte gedacht er schliefe.

Aber sie kannte ihn.

„Benjamin", flüsterte sie und lächelte über das Bild des Jungen, der so gefährlich nah über dem Wasser and die Galionsfigur geschmiegt dalag.

Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt