5. Sommer

328 72 2
                                    

5

Den Regensommer nennt Ella ihn, den Sommer nachdem die Grundschule für sie zu Ende gegangen ist. Nicht nur, weil es fast immerzu regnet, nein. Ella ist doch nicht so blöd, dass ihr dann nichts besseres einfallen würde - Untergegangener Sommer, oder Sommer Der Herbst Sein Wollte, oder Als das Meer den Himmel liebte - aber er passt auch zu ihrer Stimmung, zu dem Gedanken, dass sie ihre kleine Schule nur wenig entfernt von zu Hause nun für das Gymnasium in der Stadt verlassen muss, ganz ohne Benny, und dass Benjamin ab jetzt auf ein besonderes Internat gehen soll und sie ihn nur noch wenig sehen wird und dass ihr Vater gerade erst wieder da war, um irgendwelche Sachen mit ihrer Mutter zu reden und Benny wieder so seltsam angesehen hat.

Und dann ist Bonifatius auch noch erkältet, bestimmt wegen dem ganzen Regen, und der Sommer am Meer wird lang und zäh und bedrückend.

Wenn der Sturm draußen um das kleine Haus tobt, will sie sich am liebsten in der alten Eichentruhe verstecken, damit sie auch ja sicher ist, falls das Dach ein Loch bekommt und es rein regnet, aber so einfach ist das leider nicht.

Denn da draußen ist ja Benny, und Benny mag nichts lieber als sich lachend hinaus in den Wind zu stellen und den Mund weit aufzumachen, bis er voll mit Wasser ist und er die Augen von dem fliegenden Salz zukneifen muss.

Wenn er könnte, dann würde er nach ganz vorne auf den Steg rennen, bis seine Zehen über das Holz hinaus ragen und nur ein winziger Luftstoß ausreichen würde, ihn in die launischen Wellen zu werfen.

Deshalb kann sich Ella nicht verstecken, weil sie alle Türen abschließen muss und aufpassen, dass Benjamin nicht doch irgendwie einen Weg nach draußen findet, wie da als er den Ersatzschlüssel entdeckt hat, oder durch das Badezimmerfenster klettern wollte.

Sie weiß ja, dass Benny und das Meer eine besondere Verbindung haben, und dass dort draußen noch andere Dinge lauern, als nur der Wind, und sie hat zu sehr Angst wegen diesen unbekannten Gefahren, um ihn aus dem Haus zu lassen.

Dann wird Benny bockig und schlägt um sich und summt laut und wütend wie eine Hornisse, deren Stock man zerstört hat und Ella kann ihn kaum halten, aber sie muss, weil Bonifatius krank ist und ihm der Husten die Lunge zerreißt.

„Würde ich bloß nicht so viel Pfeife rauchen", lacht er nach einem Hustenanfall und Ella schwört nie im Leben auch nur irgendwas zu rauchen, damit sie keinen schlimmen Husten kriegt und Benjamin nicht mehr halten kann, wenn er in den grausigen Sturm entwischen will.

Und tagsüber, wenn der Regen zwar ruhig fällt, aber so dicht, dass man kaum noch den Strand vor der Haustüre erkennen kann, da sitzt Ella mit dem Regenschirm auf der Veranda und ruft laut, wenn der verschwommene orangene Punkt, der Benny in seiner Warnjacke ist, im Sand zu verschwinden droht, damit er nicht noch grantiger mit ihnen wird, eingesperrt in der Hütte.

Eigentlich will sie sich nur mit ihm vor den Fernseher kuscheln und Großvaters alte Filme anschauen, aber wenn Moby Dick oder die Schatzinsel laufen, dann wird Benjamin viel zu schnell unruhig und will selbst hinaus aufs Meer zur Kaperfahrt und Ella hofft nur, dass ihm das Meer nicht böse wird und eine Krabbenarmee schickt um ihn heimzuholen.

Der Sommer ist in vieler Hinsicht kein richtiger Sommer, und Ella beschließt, ihn nicht zu zählen, auch wenn sie ein kleines bisschen Angst hat, dass der Husten von Großvater Bonifatius bedeutet, dass er bald sterben muss und sie ihn nicht mehr in seinem Strandhaus besuchen kommen können.

Aber Ella geht jetzt auf das Gymnasium und muss sich wie ein großes Mädchen verhalten, also erträgt sie den Regen und das Aufpassen auf Benny und Bonifatius' Husten und die trübselige Autofahrt nach Hause und hofft, dass die Sonne bald wieder aufgeht.



Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt