Teil 8

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Plötzlich wusste Ella, was das für eine Silhouette auf der Sandbank war und sie fühlte sich, als hätte das kalte Wasser sie wieder umschlossen.

So schnell sie konnte eilte sie die Treppe hinter Benjamin hoch, nicht ohne zweimal zu Stolpern und sich sofort wieder aufzurichten.

Sie atmete erleichtert auf, als er bewegungslos direkt neben der Luke stand und geradeaus starrte hin zu -

Sich selbst.

Ella hatte es gewusst, geahnt, gespürt, aber ihren Bruder zweimal zu sehen, einmal direkt neben ihr und einmal draußen auf der Sandbank, vom Meer umspült und von Meerjungfrauen umkreist, raubte ihr dennoch erst einmal den Atem. Sie brauchte einen zweiten Blick, um den Unterschied zu erkennen, obwohl er so gnadenlos offensichtlich war, dass sie ihn nicht hätte übersehen können. Ihr Bruder auf der Sandbank war noch ein Kind, genauso wie damals bei dem Unfall. Seine Augen waren zu ernst für seinen kleinen Körper, aber er trug dieselbe rote Badehose.

Bonifatius war an der Reling zusammengebrochen und umklammerte seinen Hals, als hätte ihn etwas gewürgt.

Ella wollte zu ihm stürzen, aber im gleichen Moment setzte sich Benjamin neben ihr in Bewegung und sie konnte sich ihm gerade noch entgegenstellen.

Wir fordern unser Recht", sangen die Meerjungfrauen, „Vereinigt, was vereinigt gehört."

„Mein Platz ist hier", sagte der Benjamin auf der Sandbank traurig, „Es tut mir Leid, Ella."

„Nein!", brüllte sie den Meerjungfrauen trotzig entgegen, „Ihr könnt ihn mir nicht wegnehmen. Er ist mein Bruder!"

„Ella, bitte", sagte Benjamin ihr gegenüber und sah sie dabei an. Sie konnte nicht anders, als davon berührt werden. So lange hatte sie kein größeres Glück gekannt, als wenn ihr Bruder sie wirklich sah. Dass er nun sogar dabei mit ihr redete war mehr als sie sich in all den Jahren erträumt hätte. Vor ihr stand der Benjamin, den sie sich viel zu oft wieder her gewünscht hatte.

Ihr Widerstand wurde schwächer. Ihrem Bruder gelang es, sie ein paar Meter vor sich her zu schieben, bevor sie sich mit neuer Kraft gegen die Planken und gegen ihn stemmte.

„Ich kann dich nicht gehen lassen, okay?", sagte sie flehend und sah dieses Mal ihn an, auch wenn sein Blick weiter nach vorne gerichtet war. „Benny..."

Unsere Macht ist groß, sagte die Stimme, Größer als die deine. Lass ihn ziehen, denn seine Seele ist unser Recht. Er war verloren und wir haben ihn errettet.

„Das habt ihr nicht", zischte Ella, „Wir waren immer für ihn da. Ich werde immer für ihn da sein."

Er war verloren, wiederholte die Stimme und die Bahnen der Meerjungfrauen vor ihr wurden schneller und abgehackter, wie in Erregung. Was verloren ist, gehört uns.

„Ich lasse ihn nicht gehen", sagte Ella bestimmt, „Niemals."

Bonifatius richtete sich vor ihr auf, die Finger zitternd. Seine Stimme krächzte, als er sprach.

„Wir werden es nicht zulassen, dass ihr Offizier Ben zu euch holt."

Die Bezeichnung schien etwas in Benjamin zu wecken.

„Aye, aye, Kapitän!", sagte er fröhlich, als wären sie allein auf dem Kutter unterwegs, nah am Ufer und an der Sicherheit.

„Großvater", sagte Benjamin auf der Sandbank sanft, „Wir wollen nur wieder ganz sein."

„Er ist ganz!", fuhr Ella ihn an, „Er ist ganz und wunderbar und vollkommen und du bist ein verdammter Lügner!"

Sie sind eins, Ella.

Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt