Teil 9

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Als die alte Panik sie mit dem Wasser umschloss zwang sie sich dazu, ihren Atem weiter anzuhalten. Sie sank, tiefer als es zwischen zwei Sandbänken möglich sein sollte, während sie um sich herum die verschwommenen Körper der Meerjungfrauen ausmachen konnte, die um sie jagten.

Alles in ihr schrie danach, sofort mit Armen und Beinen zu strampeln und nach oben zu kommen, aber sie war nicht hier, weil sie aus Versehen gefallen war. Sie wollte ihren Bruder finden.

Gegen jeden ihrer Instinkte begann sie zu schwimmen, mit sicheren, starken Armzügen, die sie das letzte Mal vor Jahren geschafft hatte. Vor, hinter, unter und selbst über ihr waren die Leiber der Meerjungfrauen, jederzeit in der Lage sie in die Tiefe zu ziehen, aber die Sonne brach durch die Wasseroberfläche und leuchtete ihr einen einzelnen Flecken gelb zwischen ihnen. Die Meerjungfrauen berührten sie nicht einmal, bis sie Benjamin erreichte. Sein Körper trieb schwerelos im Wasser, er machte keinerlei Anstalten, seine Arme oder Beine zu bewegen, während ihm stetig Luftblasen entwichen.

Ihre Sicht war durch das Wasser schlecht, aber sie war sich trotzdem sicher, dass er dabei lächelte.

Verabschiede dich, bevor er eins wird, sagte die Stimme, unter Wasser klarer als an der Luft. Verabschiede dich vor dem Ende.

Ella ignorierte die Stimme und die Meerjungfrauen, als sie Benny unter den Achseln packte und mit sich hoch zog. Sie hatte kaum noch Luft in den Lungen und es war ihr, als würde sie trotz ihrer Schwimmzüge nur weiter nach unten gezogen, aber nach gefühlten Ewigkeiten durchbrachen sie trotzdem die Wasseroberfläche und sie schnappte japsend nach Atem.

„Ella, Ben, hier!", rief Bonifatius und warf ihnen einen Rettungsring vom Schiff zu.

Die Meerjungfrauen lachten und Ella konnte es ihnen nicht übel nehmen, wie sie zu zweit inmitten der schwimmenden Kreaturen trieben, ihr einziges Hilfsmittel ein einfacher Rettungsring. Sie klammerte sich trotzdem daran fest, während sie Wasser trat und versuchte, Benjamin über den Ring zu hieven.

„Ich gebe ihn nicht auf", rief sie den Meerjungfrauen entgegen, auch wenn sie während des Satzes noch zweimal Luft holen musste. „Nur über meine Leiche."

Es war eine Aussage, deren Lächerlichkeit Ella selbst bewusst war, aber hier im Wasser war Reden alles, was sie noch tun konnte, um die aufsteigende Panik in sich abzuhalten.

Benjamin neben ihr öffnete die Augen.

„Meer, Ella", sagte er schwach und winkte den Meerjungfrauen um sich zu.

„Nein, Land, Benny", widersprach sie hilflos.

Er gehört längst uns, sagte die Stimme. Und du weißt es, Mädchen. Ein Teil von ihm mag bei dir sein, aber er wollte immer zu uns zurückkehren. Wir haben eine Hälfte und die Hälfte der anderen Hälfte.

„Falsch", sagte Benjamin auf der Sandbank. Ella sah ihn überrascht an.

„Mich habt ihr auch nur zur Hälfte."

Die Meerjungfrauen um sie schwammen schneller, als wären sie nervös.

„Ein Teil von mir wollte zu ihnen zurückkehren", sagte er zu ihnen, „Und ihr wusstet es."

Teile, Hälften, hah, wütete die Stimme, Du bist hier in unserem Reich und unser Recht und unser Eigen.

Benjamin neben Ella sah auf und überblickte lächelnd die Meerjungfrauen.

„Ella", sagte er. „Meer. Ich bin ein Malerfisch. Meine Haare sind über dem Meer."

„Halt, lasst mich einen Vorschlag machen", rief sie fest und die Meerjungfrauen verlangsamten ihr Schwimmen, bis sie nur noch sanft im Wasser trieben.

Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt