14. Sommer

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Es gab in all den Jahren keinen Sommer, in dem Ella nicht das Gefühl hatte, alles sei anders als bisher.

Aber jetzt, ein Jahr nachdem sie draußen auf dem Meer den Meerjungfrauen begegnet sind, eine Erinnerung die für sie alle nur vage und verschwommen bleibt, weiß sie, wie viel anders tatsächlich bedeuten kann.

Ein Jahr lang ist Benjamin wieder er selbst, und ein Jahr lang kann auch endlich Ella wieder sie selbst sein, eine Freiheit die neu und seltsam für sie ist, so plötzlich und unvorhergesehen wie sie gekommen ist.

Sie hat das letzte Jahr in einem Kindergarten als Freiwillige verbracht, so unsicher, was sie tatsächlich tun soll, jetzt wo Schule und das Leben mit Benny wie es war vorbei sind, und sie weiß es immer noch nicht so recht. Bei Bonifatius wartet ihr Laptop mit den angefangenen Bewerbungen, die sie einfach nicht fertig schreiben kann.

Ella ist nicht daran gewöhnt, so viel für sich selbst zu denken und sie will vor allem nicht daran denken, wie es sein wird in irgendeine Großstadt zum Studium zu ziehen, wohin ihr Bruder ihr nicht folgen kann, weil er noch zu viel in der Schule nachzuholen hat.

Also seufzt sie bei dem Gedanken und sieht hoch zu Benny auf seinem Handtuch und spürt wie jedes Mal aufs Neue die leichte Überraschung, ihn so anwesend zu finden.

Es ist seine Idee, fast jeden Tag zum Touristenstrand zu fahren und ihre Sachen bei den Felsen auszubreiten, wo sie den Rücken frei haben aber ungehinderte Sicht über die Urlauber.

So viele Jahre hat er die Menschen um sich herum verpasst, sagt er, dass er jetzt nichts lieber tut, als sie den ganzen Tag lang nur zu beobachten. Ella ist überrascht wie ähnlich es ihr geht, denn auch wenn sie ihre Freunde zuhause hatte, die Sommer hier haben sich immer um Benjamin und Bonifatius gedreht, nie hat sie sich die Mühe gemacht, die anderen Menschen zu betrachten, außer bei Emma vielleicht, die erst später diesen Sommer zu ihnen stoßen wird, weil sie von der Uni auf einer Exkursion in Israel ist.

Benjamin hat jetzt ein Leben, und der Gedanke ist Ella so fremd, dass sie sich immer wieder dabei ertappt, wie sie von ihrem Bruder noch als den ruhigen Einzelgänger ausgeht, der er in seinen besten Tagen war, vor den Meerjungfrauen.

Er ist noch der alte Benjamin, still und verträumt, und ihm fallen weiter die seltsamsten Dinge auf, wenn er abends auf dem Steg sitzt und die farbigen Wolken betrachtet. Aber er ist auch ein neuer Benjamin, nett und zuvorkommend und intelligent und er lacht so gerne und sieht dabei unverschämt gut aus, sodass ihm Jungen wie Mädchen zu Füßen liegen.

Das wichtigste für Ella ist, dass sie selbst Benjamin immer am meisten lieben wird - vielleicht bleibt sie deshalb weiter ohne Beziehung, weil sie jede freie Minute nutzt, um das nachzuholen, was sie beide in zwölf Meerwasserdurchtränkten Jahren versäumt haben, die Last von Bennys Rücken endlich abgefallen.

Alles ist anders und alles ist ihr egal, so egal, denn Benjamin ist endlich ein richtiger Junge, wie Pinoccio. Auch wenn er seine Kindheit verpasst hat.

Deshalb sind sie dieses Jahr wieder hier, auch wenn sie beide dutzende andere Möglichkeiten hätten, ihre Ferien zu verbringen; aber die Geschwister müssen zu sich selbst finden, die von Wunder schwärmenden Ärzte vergessen und genießen, ein letztes Mal, dass sie zusammen sind an dem Ort, wo sie schon immer am meisten verbunden waren.

Großvater Bonifatius lässt sie ziehen, wenn sie ihrer Wege gehen, und Ella bleibt einen kurzen Moment zurück um ihn zu umarmen und ein leises ‚Danke!' zu flüstern, für alles.

Und dann liegen sie am Strand, die Sonnenbrillen über den Augen und murmeln sich kichernd ihre Beobachtungen zu und gehen auf keinen Fall schwimmen, in Ellas Fall, denn wer weiß was das Meer das nächste Mal mit ihnen anstellt.

Es ist ein solcher Tag, als sie Jean-Claude treffen. Er ist anders, als die üblichen Touristen, ein junger Mann mit stechend blauen Augen und ausgefranstem Strohhut über dem verwaschen rotem Hemd und den Jeansshorts, so unpassend zu seinen pinken Flipflops.

Sie beobachten ihn, wie er sich etwas oberhalb auf einen Felsen setzt und aus seiner Tasche Brille und Block herausnimmt, auf dem er mit schnellen Handbewegungen Text notiert, die Augen suchend über den Strand streifend.

Er erinnert Ella an Emma an dem Tag, als sie sich getroffen haben, genauso fehl am Platz unter den Touristen und das macht ihn interessant.

Für ein paar Minuten sieht Ella ihn schreiben, und sie spürt Benjamins Blick ohne sich zu ihm zu drehen, dann steht der Fremde abrupt auf und steckt den Block wieder ein, sodass er etwas verloren dasteht, als hätte er vergessen, wo er sein Handtuch ausgebreitet hat.

Sie brauchen kein Wort zu wechseln, um ihn einzuladen. Und Jean-Claude muss nur einen Blick auf den warm lächelnden Benjamin werfen um die Einladung anzunehmen.

Jean-Claude ist Schriftsteller und Freidenker, Geschichtenerzähler und Träumer. Bennys Augen leuchten auf, wenn er redet. Es braucht nicht einmal den Weg zurück zum Strandhaus, bis Ella weiß, dass er bleiben wird.

Abends sitzen sie auf dem Steg, zu dritt, während Bonifatius vor dem Haus den alten Wagen repariert, und keiner von ihnen spricht ein Wort; Jean-Claude schreibt hastig in seinen Block, als würde er die Worte vergessen, wenn er sie nicht sofort zu Papier brächte, Benny beobachtet ihn ruhig und Ella liegt auf dem Rücken und atmet tief ein und aus und fragt sich, wann sie das letzte Mal so entspannt und sorgenfrei am Steg liegen konnte, ohne Angst um ihren Bruder zu haben, dieses kleine bisschen Angst, das sie nie verlassen hat, auch wenn sie wusste, dass er eigentlich in Sicherheit war.

Vielleicht ist es Jean-Claudes Anwesenheit, die sie so beruhigt, oder sie hat es endlich verstanden - Benjamin ist hier und weiß was er tut, und sie hat ihm nicht mehr zu sagen, vor welchen Gefahren er sich hüten muss.

Ella fühlt sich wie ein Heliumballon, am Ende eines langen Jahrmarkttages schweren Herzens in den weiten Himmel entlassen.

Bennys Zustand hat sie immer unten gehalten, gefangen, aber jetzt wo sie frei ist von der Last, weiß sie nicht wohin, die Winde wirbeln sie umher und sie sieht nur den Boden schwinden und die Sonne näher kommen und die Zukunft kann alles und nichts bedeuten.

Die Freiheit ist schön und schrecklich und echt, jede kleine Entwicklung im Leben, jede Änderung, jeder Zufall, haben ihre guten und schlechten Seiten und man muss wirklich nur lernen, alles in einem neuen Licht zu sehen.

Ein Käfig mag ein Gefängnis sein, aber er hält all das Denken von einem fern, dass die Freiheit unweigerlich mit sich bringt.

Ella weiß nicht, ob sie je wieder so mit ihrem Bruder zusammen sein wird, wie diese Sommer bei Bonifatius und ob ihr Gefühl sie bei Jean-Claude nicht täuscht und er nach diesem Tag aus ihrem Leben verschwinden wird, aber das ist jetzt Teil ihres Lebens - sie muss loslassen und Benny den eigenen Raum geben, dass auch er endlich fliegen kann, wenn er will.

Es macht ihr Angst darüber nachzudenken, dass sie ihn verlassen wird und ihn nicht mehr beschützen kann. Fast so sehr wie es ihr Angst macht, dass er andere Menschen finden wird, die ihm wichtig werden, ohne dass Ella überhaupt davon weiß.

Aber sie kann nichts tun, als es geschehen zu lassen, mit einem Lächeln auf den Lippen und Tränen in den Augen, weil Jean-Claude dafür steht, wie ihre zwanghafte Symbiose sich in Luft auflöst und sie beide in einen neuen Himmel entlässt, in dem sie entweder ihre Flügel ausbreiten lernen oder fallen.

Die Zukunft kommt, und auch wenn man an einem dunklen Ort ist und glaubt, nie wieder ans Licht zu kommen, kann sie immer eine Wende bringen.

Sie schaut nach vorne. Die Meerjungfrauen haben sie endgültig losgelassen.

Ella ist frei.




Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt