3. Sommer

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Ein Sommer später findet Bonifatius zwei Kinder vor, die sich so stark verändert haben, dass er sie lachend fragen muss, ob sie wohl wirklich Ella und Benjamin, seine Enkel, sind.

Ella würde sich gerne über seinen Witz freuen und darüber, dass sie wieder bei Großvater am Meer ist, aber das blasse Gesicht ihrer Mutter spukt durch ihren Kopf, und das laute Schreien des Vaters, der Benjamin als Abschaum und verrückt und den Grund für all seine Probleme beschimpft.

Deshalb sind sie viel früher hier als die anderen Jahre, noch lange bevor die Ferien angefangen haben, weil ihre Mutter sie ganz plötzlich weggeschickt hat, nachdem sie und ihr Vater sich wieder gestritten haben, über Benjamin, wie immer, der sich nach ein paar Wochen geweigert hat, zu der neuen Therapiegruppe zu gehen.

Wir tun echt alles für diesen Freak, aber was bringt das? Ich sag ja, steck ihn in ein Heim und gut, aber du ... und jetzt schau dir die Scheiße an, die wir mit dem Idiotenkind haben!

Und dann ist da Benjamin in ihrem Kopf, nicht still und zufrieden, wie er jetzt neben ihr im Auto sitzt, sondern wie damals, als er sich bei ihr im Schrank versteckt hat vor den Launen ihres Vaters, den Kopf an die Wand hauend während er murmelt: „Idiot, Idiot, Idiot", immer lauter, und sich nicht mehr hinaus traut bis er zu sehr Hunger hat.

Letztes Jahr hat Ella Großvater Bonifatius von ihrer Schule erzählt, dieses Jahr atmet sie langsam aus und ein, versucht das Salz in der Luft zu schmecken und sich immer wieder zu sagen, dass sie hier sicher ist, anders als zuhause mit dem wütenden Vater oder in der Schule mit den beiden Mädchen, die immer über sie lachen, weil sie einen so seltsamen Bruder hat.

Bonifatius lässt sie in Ruhe. Er fragt nicht nach, er schaut nicht so auffällig oft zu ihr hin wie die Lehrerin es manchmal tut, wenn die Mädchen gerade einen bösen Witz gemacht haben, und er tappt auch nicht mit den Fingern auf das Lenkrad wie ihre Mutter, wenn sie etwas hören will.

Eine Woche geht das so, Ella ist so still wie ihr Bruder, Benjamin noch stiller als sonst, obwohl sie bei ihm im Bett schläft und ihn bei all den Alpträumen fest umarmt, und Bonifatius wartet.

Dann eines Morgens wacht sie viel zu früh auf, mitten in der Nacht eigentlich, und der Tisch ist zum Frühstück gedeckt.

Großvater Bonifatius begrüßt sie fröhlich in der Küche, und Benjamin, der nur kurz später verschlafen und verwirrt in der Tür steht.

„Sind meine beiden Matrosen bereit für die große Fahrt?", fragt er, und Ella weiß nicht so recht, was sie davon halten soll, aber Benny ist gleich Feuer und Flamme.

„Aye aye, Kapitän!", ruft er voll Eifer und wirkt gleich so viel zufriedener als jemals seit dem Tag, als ihr Vater zum ersten Mal so in seiner Gegenwart getobt hat.

In dem Moment beschließt Ella, dass, was auch immer der Plan ihres Großvaters ist, sie diesen nur gut finden kann.

Also essen sie, und dann geht es hinaus zum alten Bootschuppen wo der Fischkutter von Bonifatius steht und sie helfen, ihn vollständig zu richten und das Gestell soweit runter ins Wasser zu kurbeln, dass das Boot sanft hinaus ins Meer gleiten kann.

Sie schaukeln hinaus, und Bonifatius zeigt ihnen, wie man die Netze auswirft und steuert und die Segel refft und Benny rennt umher und wiederholt glücklich alle Kommandos, während er Knoten bindet und den Anker hochzuziehen versucht.

Als über den Wellen blutrot die Sonne aufgeht, sind sie schon weit draußen.

Benjamin darf steuern, auch wenn er kaum das große Steuerrad umfassen kann, und Ella fühlt sich endlich ruhig genug, um die Augen zu schließen und sich zurück gegen die Reling zu lehnen, weil er keine Anstalten macht, sich fort zu stehlen.

Ihr Bruder ist endlich wieder glücklich, und sie merkt was für ein wichtiger Teil ihres eigenen Glücklichseins das die ganze Zeit gewesen ist.

Und während sie dahin driftet und die kräftige Seeluft ihr all die bösen Gedanken der letzten Zeit aus dem Kopf pustet und Benny zufrieden das Schiff lenkt, als hätte er in seinem Leben noch nichts anderes gemacht, setzt sich Bonifatius zu ihr und raucht an seiner Pfeife.

„Was meinst du Ella, war die Fahrt eine gute Idee?", fragt er.

„Eine sehr gute Idee", antwortet Ella überzeugt, „Du siehst doch wie sehr Benny es liebt auf dem Meer zu sein."

Sie fühlt sich ganz groß und wichtig, als Bonifatius aufmerksam zuhört und nickt, so lange hat sie schon keiner mehr nach ihrer Meinung gefragt und sie auch wirklich wissen wollen.

„Und du?", sagt Bonifatius leise, „Magst du es hier draußen denn?"

Ella wird von der Frage ein bisschen überrascht, denn darüber hat sie sich schon lange keine Gedanken mehr gemacht - sie ist glücklich, wenn Benny glücklich ist, das reicht doch. Vor allem, weil Benny doch so viel schwerer glücklich zu machen ist.

„Ich mag es auch", sagt sie bedächtig und hört angestrengt in sich hinein, was sie tatsächlich über sich selbst sagen kann, „Man fühlt sich so frei wie der Wind, als könnte man selber über das Wasser irgendwohin weg fliegen. Und ruhig ist es auch, weil keiner schreit außer den Möwen, aber die dürfen das, die schreien ja auch sonst immer."

Sie ist erstaunt, wie viel sie gesagt hat, und flüstert ihre eigenen Sätze noch einmal nach.

„Ich wäre gerne eine Möwe", stellt sie fest, „Dann könnte ich wirklich fliegen und immer am Meer sein und auf Benny aufpassen. Und wenn er in Gefahr ist, dann schreie ich und jeder hört mich und kommt um zu helfen."

Bonifatius schaut sie lange an, und sie fängt fast an, sich etwas unwohl zu fühlen und ihren langen Wortschwall zu bereuen, doch dann lächelt er.

„Du bist ein sehr kluges Mädchen, Ella. Viele Menschen brauchen viel länger um zu erkennen, wie viel besser es wäre, eine Möwe zu sein."

Der Stolz erfüllt sie bis ganz zu den Ohrenspitzen, und sie verbringt den Rest der Fahrt damit, sich zu überlegen, wie es sich als Möwe wohl so anfühlen würde. Vielleicht sollte sie ein Buch darüber schreiben.

‚Ich will eine Möwe sein' wird es heißen, und viele schlaue Erwachsene werden es lesen und ihr viel Geld geben, mit dem sie sich ein großes Haus und eine Schule und eine Achterbahn direkt am Meer kauft, und dann noch einem großen Haus für Benny, das mit ganz vielen Muscheln geschmückt wird und wie ein gestrandetes Schiff aussehen soll.

Den Rest des Sommers denkt sie nicht mehr daran, wie schlecht es ihr zuhause ging. Sie erzählt viel lieber Benny von dem Möwenbuch und von dem Haus, dass sie ihm kaufen wird und als Bonifatius sich zu ihnen setzt und ihr mit ernster Stimme, wie damals bei Benjamins Verschwinden, erklärt, dass ihr Vater weg gegangen ist und nicht mehr zurückkommt und sie wahrscheinlich umziehen müssen, da nickt sie und bleibt ruhig wie eine richtige berühmte Autorin, denn die weinen bestimmt auch nicht, nur weil sich ein paar Dinge in ihrem Leben verändern, das gehört ja zum berühmt sein.



Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt