Teil 3

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In nur wenigen Sekunden wandelte sich die angespannte Atmosphäre in absolutes Chaos.

Es war, als hätte das Meer nur darauf gewartet, bis sie sich in Sicherheit wiegte, um wieder mit aller Kraft zuzuschlagen.

Die Wellen rollten noch stärker an, als sie das zuvor getan hatten, und zusätzlich wurde Benjamin zunehmend unruhiger.

Es fing an mit einem leisen Winseln nach jedem tieferen Rumpeln, das Ella alarmiert zu ihrem Bruder sehen ließ.

Sie wurde weiß, als ihr klar wurde, was seine Aufgebrachtheit bedeutete.

Das Unwetter war nicht länger harmlos. Sie befanden sich tatsächlich in Gefahr.

Zunehmend nervöser warf Ella einen letzten besorgten Blick zu ihrem Bruder, bevor sie sich zur Sprechanlage im Flur aufmachte, um mit Bonifatius in der Steuerkabine zu reden.

„Ich mach mir Sorgen", flüsterte sie in die altertümliche Messingröhre, „Und ich habe Angst um Benny."

In Wirklichkeit war es andersherum: Sie hatte Angst. Und um Benjamin machte sie sich Sorgen. Ein großer Unterschied.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Bonifatius antwortete, und Ella hatte bereits begonnen, sich die schrecklichsten Szenarien auszumalen, in denen er über Bord gespült worden war oder ähnlich grausige Gründe, die ihn davon abhalten könnten.

„Das Schiff ist unter Kontrolle", sagte ihr Großvater ruhig, und sie schloss vor Erleichterung die Augen, dass es ihm gut zu gehen schien.

Ein großer Ruck ging durch das Boot, sodass sie das Gleichgewicht verlor und rumpelnd zu Boden fiel.

„Ella!", rief Bonifatius besorgt aus der Sprechanlage, „Alles gut bei dir?"

„Alles gut", sagte Ella halbherzig, als sie sich wieder aufgerichtet hatte. Sie biss sich auf die Lippen, in der Hoffnung, ihr Zittern zu unterbinden.

„Können wir zurück fahren?", bat sie.

Sie hörte ein langes Atmen und bereitete sich auf die Antwort vor.

„Wir steuern Land an, sobald es möglich ist", erklärte Bonifatius langsam, „Aber mit einem Boot dieser Größe ist es das sicherste, über tiefem Wasser zu bleiben, bis sich das Meer etwas beruhigt hat. Es wäre zu gefährlich, flachere Gewässer anzusteuern und zu riskieren, dass wir gegen die Klippen getrieben werden."

Ella erschauderte.

„Wie lange noch?", flüsterte sie und hoffte, dass Benjamin unter Kontrolle bleiben würde.

„Ich weiß nicht", antwortete er ernst. „Pass auf Ben auf. Uns wird nichts passieren."

Sie erwiderte nichts darauf - sie wusste nicht, ob sie überhaupt dazu in der Lage wäre.

Ihr Magen fühlte sich wie abgeschnürt und dreimal verknotet an, und sie spürte ein unangenehmes Summen wie von wütenden Hornissen tief in ihren Knochen.

Es war, als würde sich ihre Seele bereits darauf vorbereiten, ihren Körper unter Tonnen von Wasser zurückzulassen, und sie hasste das Gefühl.

Benjamin summte laut wie die Hornissen in ihr drinnen, fast ohne Luft zu holen.

„Psst, Benny", versuchte sie ihn zu beruhigen, aber er beachtete sie nicht.

Er starrte nur geradeaus aus dem Fenster, summte mit beiden Händen an die Schläfen gepresst und heulte zwischendurch aufgebracht auf.

Sie schloss vorsichtig die Tür und setzte sich zu ihm, darauf achtend, dass sie ihm dabei nicht zu nahe kam.

Mit weiter zitternden Händen holte sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Emmas Namen aus der Kontaktliste aus, um eine SMS zu schreiben.

Ich weiß nicht, ob ich es schlimm finde, dass du nicht hier bist oder mich freuen soll, dass du nicht mit uns untergehst", schrieb sie mit einem Schnauben bevor sie die Tastensperre schnell wieder einschaltete um keine Meldung wie ‚Diese Nachricht konnte nicht zugestellt werden' sehen zu müssen. Der Empfang hier draußen bei dem Wetter konnte nur katastrophal sein.

Sich wenigstens einbilden zu können, dass ihre beste Freundin den Text auf ihrem langweiligen Schnuppertag an der Uni lesen konnte, half ihren Nerven trotzdem erstaunlich gut.

Ella fragte sich, ob Emma sich Sorgen machen würde, wenn sie nicht von ihr hörte und biss sich direkt danach auf die Lippen, um sich davon abzubringen, ihre Gedanken auf ein Neues ins Düstere abdriften zu lassen.

„Ich hätte an Land bleiben sollen", murmelte sie. Sie mochte das Meer, natürlich, solange sie festen Boden unter den Füßen hatte und die brechenden Wellen es nicht schafften, ihr die Füße unter ihrem Körper wegzureißen.

Nein, sie vertraute dem Meer nicht.

Wie auf Kommando begann sich der Raum um sie zu neigen, sodass sie ins Straucheln geriet und beinahe den Halt verlor.

Benjamin jaulte wie eine Polizeisirene und sprang auf, ungeachtet der Schieflage des Schiffes.

„Benny!", rief Ella nachdrücklich und gab ihr Bestes, um auf beiden Beinen fest stehend die Tür nach draußen zu versperren.

Ihr Bruder prallte mit voller Wucht gegen sie und riss sie beide zu Boden, wo er sofort versuchte wieder hoch zu kommen, während sie instinktiv ihre Arme um ihn schloss und ihn von sich weg nach unten drückte.

Er war stark, stärker als sie, aber gewöhnlich hielt ihn seine Behinderung davon ab, seine Stärke ganz zu nutzen. Dieses Mal nicht. Ella schaffte es kaum, ihn unten zu halten, geschweige denn ihn in eine Position zu bringen, in der sie ihn besser unter Kontrolle hatte. Sie hasste es, ihn zu etwas zu zwingen, was er nicht wollte und hätte ihn unter allen anderen Umständen sofort gehen lassen - wenn dort nicht der Sturm wäre, der ihn draußen unweigerlich erwarten und in Stücke reißen würde.

So aber fühlte sie ihre Kraft im Kampf mit ihm schwinden; sie keuchte und wollte ihren Griff verstärken, als sie sein Ellbogen hart im Gesicht erwischte und sie Sterne sehen ließ.

Für einen Moment drohten ihre Sinne ihr zu entgleiten - die Decke verschwamm vor ihren Augen, der Sturm verlor seine Lautstärke und der Boden seine Festigkeit - bevor sie sich wieder fing, aber es war genug für Benjamin um sich von ihr zu befreien und die Tür aufzureißen, ihr in seiner Hast einen weiteren festen Stoß in den Bauch verabreichend.

Ella lag auf dem Boden und bekam keine Luft mehr, während seine Schritte laut durch ihren Kopf pochten, als er hinaus floh.


Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt