Teil 5

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Für ein paar grauenhafte Sekunden, in denen ihre Hände sich in die Fugen der Luke krallten und sie ihre Beine nach unten zwang, war sie sich sicher, für immer dort unten am Boden bleiben zu müssen, ohne auch nur ahnen zu können, was mit Benny geschehen war.

Dann packte sie ein Arm an der Schulter und zog sie mit Kraft, aber dennoch behutsam nach oben.

„Was machst du hier draußen?", brüllte Bonifatius entgeistert, „Schnell, komm mit!"

Seine Stirn war von Sorgenfalten zerfurcht, die Kapuze seiner Öljacke flatterte nutzlos hinter ihm und das Wasser rann tropfend aus seinem dichten Bart. Um seine Mitte war ein Seil geknotet, das sich über den Boden hin zum Steuerhaus rollte.

Ella sackte kraftlos gegen seine breite Brust. Er hielt sie mit einem Arm fest und wischte sich mit dem anderen immer wieder das Wasser aus den Augen.

„Wo ist Benny?", fragte sie, aber ihre Stimme war zu leise, um durch das Brausen des Sturms zu ihm zu dringen.

„Komm!", rief er nur, „Du musst hier weg!"

Sie zuckte instinktiv nach unten zur Luke hin, aber er zog sie zurück und schüttelte den Kopf.

„Zu riskant bei dem Wetter", brüllte er entschlossen, „Komm mit mir!"

Bonifatius legte einen Arm um ihre Seite und zog sie mit sich zur Reling, an der er sich bis zur Kapitänskajüte hin entlang zog. Der Wind wehte ihnen entgegen, und ohne seine Hand am Steuer war das Schiff dem Sturm nur noch mehr ausgeliefert, aber mit seiner Unterstützung hier draußen kehrte das Leben in Ellas Gliedmaßen zurück und sie konnte sich mit ihm mit vorwärts kämpfen, der ganze Kopf nur erfüllt von dem Gedanken, endlich Schutz vor all dem Wasser und dem Sturm zu finden.

„Geh, Ella, geh!", ertönte da Benjamins Stimme und sie fuhr herum.

Er saß hinter ihnen auf dem großen Hauptmast des Kutters, ganz oben, wo eigentlich kein Weg hinführte.

Es war, als würde der Sturm ihn dort oben nicht berühren können, selbst seine blonden Haare standen nahezu still um seinen Kopf. Die Blitze erleuchteten ihn hell gegen die schwarzen Wolken und das wogende Meer wie eine himmlische Erscheinung, als er beide Arme weit ausstreckte und sich nur noch mit den Beinen hielt. Er wandte den Kopf nach oben, als wollte er losfliegen.

Ella wusste nicht mehr, was sie fühlen oder denken sollte. Es schoss alles gleichzeitig in sie hinein, wie die Wellen, die am Schiff brachen und sie mit Salzwasser überschwemmten - Erleichterung, Angst und ein mulmiges Unbehagen, das stärker wurde, je länger sie ihn sturmumtost dort oben sitzen sah. Es wuchs in ihrem Magen wie ein Tumor und brachte unweigerlich die Erinnerungen zurück an all die Dinge, die anders waren mit Benny.

Sie hatte sich immer gefragt, ob die unergründlichen seiner Eigenschaften etwas Gutes oder Schlechtes waren. Jetzt war sie sich so unsicher wie noch nie.

„Komm sofort da runter!", brüllte sie ihm zu, als würde das alles beenden können.

„Ella, geh!", antwortete er abwesend mit seiner normalen Stimme, den Blick weiter nach oben gerichtet, „Opa, geh!"

Das Schiff tat einen Ruck, dass Ella und Bonifatius sich gerade noch an der Reling festhalten konnten, als es scharf zur Seite gedrückt wurde, aber Benjamin blieb ungestört sitzen. Eine nächste Welle überspülte den Kutter so gründlich, dass Ella für zwei Sekunden komplett unter Wasser war. Das Gefühl ließ sie vor Panik nach Luft schnappen und das Wasser floss gerade rechtzeitig wieder ab, dass sie es nicht einatmete. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie sich von Bonifatius löste und sich mit beiden Armen an die Reling klammerte, bevor sie sich zurück zu ihm wandte.

Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt