Teil 10

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Als sie aufwachte, fühlte sie zuerst den Sand unter ihrem Körper, nass und unbequem und körnig. Ihr Kopf lag erhöht auf etwas weichem. Jemand hielt ihr Handgelenk und jemand anderes kümmerte sich um ihr Bein mit vorsichtigen, sicheren Berührungen.

Sie versuchte einzuatmen, aber das Wasser in ihrer Lunge ließ sie so stark husten, dass ihre Gliedmaßen ausschlugen und sie die unbekannten Körper um sich traf.

„Sie ist bei Bewusstsein!", rief eine unbekannte Männerstimme und mit ihr kamen auch endlich die Geräusche bei ihr an, das leise Rauschen des Meeres im Hintergrund, das Schreien der Möwen und das Reden, Murmeln und Rufen unzähliger Stimmen um sie herum.

Sie hörte ein Klicken und „Keine Fotos, bitte!", dann Sirenen, die sich näherten. Das Blau und Rot drang selbst durch ihre geschlossenen Lider. Ihre Augen waren verklebt und brannten, aber sie öffnete sie trotzdem.

Die ersten Bilder waren verschwommen. Sie erkannte den Strand und das Meer zuerst, dann die Menschen. Drei Sanitäter hatten sich um sie gescharrt, andere eilten zwischen den Felsen umher; weiter weg standen zwei Krankenwagen und drei Polizeiautos, ihr Absperrband hielt einen großen Pulk von Menschen davon ab, auf den Strand zu stürmen.

Eine einzelne Frau löste sich aus der verschwommenen Menge hinter den Sanitätern und rannte auf sie zu.

„Ella!", rief sie, „Oh Gott, Ella, du bist wach!"

Ellas Gedanken waren langsam wie ihre Sinne und ihr Verstand holte erst auf, als die Frau sie längst in die Arme geschlossen hatte.

„Mama", murmelte sie verblüfft und die Frau nahm ihr Gesicht in beide Hände und tastete sie ab, wie um sicher zu gehen, dass sie auch keine Halluzination war. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.

„Ich lebe", stellte Ella als nächstes fest und war noch verwirrter. Ihre Mutter schluchzte und schloss sie noch einmal in die Arme, wodurch Ella das Gesicht verzog und schmerzvoll die Luft einsog.

„Ich kann verstehen, dass Sie glücklich sind", ermahnte sie ein Sanitäter, „Aber ihre Tochter ist immer noch fragil."

„Na, natürlich", sagte ihre Mutter atemlos, „Es tut mir Leid. Oh, Ella ..."

Hinter ihr näherten sich bedächtige, schwere Schritte und Ella sah auf, während sich ihre Mutter behutsam von ihr löste und zwei Schritte zurück trat.

Bonifatius lächelte sie an, eine dicke Decke um die Schultern geworfen, ein Arm in der Schlinge und einen anderen auf ein Mädchen mit dicker Brille und orangenem Anorak gestützt.

„Willkommen zurück", sagte das Mädchen mit einem breiten Grinsen.

„Großvater Bonifatius!" Ella konnte kaum noch sprechen, so glücklich war sie, die beiden zu sehen. „Emma, was machst du hier? Solltest du nicht an der Uni sein?"

„Deine letzte SMS war sehr besorgniserregend", antwortete ihre beste Freundin und verdrehte die Augen, „Mit gutem Grund, wie sich herausgestellt hat. Du hast keine Ahnung, wie wenig ich die letzten Tage geschlafen habe!"

Ella runzelte die Stirn.

„Wie lange ...", begann sie und wagte es nicht, die Frage zu beenden.

„Fünf Tage", antwortete Bonifatius trotzdem, seine Stimme ruhig.

„Fünf Tage", wiederholte sie und konnte nicht genau sagen, warum ihr die Zeitangabe seltsam vorkam, abgesehen davon, dass sie in ihrer Erinnerung keinen ganzen Tag draußen auf dem Meer verbracht hatten.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das alles noch einmal durchstehen muss", schluchzte ihre Mutter und da erinnerte sich Ella.

„Benny", sagte sie. „Wo ist Benny?"

Sie sah erst ihre Mutter, dann ihren Großvater an. Beide wichen ihrem Blick aus.

„Ella, ganz ruhig", begann Emma zögerlich, „Sie haben dich gerade erst gefunden, die anderen Helfer sind noch unterwegs, er taucht bestimmt bald auf ..."

Sie sah sich ein zweites Mal um und erst jetzt wurde ihr klar, was die vielen anderen Menschen machten, die verteilt über den Stand eilten, Taschenlampen in ihren Händen.

„Ihr glaubt nicht daran", hauchte Ella. „Wieder nicht."

Sie spürte, wie die Tränen ihr in die Augen schossen. Es konnte nicht sein. Sie hatten nicht all das ... all das überlebt, nur damit Benjamin zurückblieb. Ihre Erinnerungen waren nur bruchstückhaft, aber sie wusste, dass sie alle drei zusammen gewesen waren, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte.

„Ella, es wird alles gut", versuchte ihre Mutter sie zu trösten und wollte sie am Arm fassen, aber Ella wich ihr aus und starrte hinaus aufs Meer, während ihr die Tränen stumm über das Gesicht rollten.

„Sie haben ihn gehen lassen, ganz bestimmt", murmelte sie, ohne Recht zu wissen, wovon sie sprach. „Er ist irgendwo, das weiß ich."



Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt