7. Sommer

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In dem Jahr ist es eigentlich gar nicht so wichtig, dass sie zu Großvater Bonifatius fahren, denn Benny hat eine neue Therapeutin, die ihn in den Stunden immer mit Muscheln spielen lässt und ihm Meeresrauschen auf der Stereoanlage vorspielt, und sie hat ihrer Mutter erzählt, wie Benny schon wirklich viel mit ihr geredet hat, wenn man mit seinen Unterlagen vergleicht.

Ihre Mutter lacht und weint und freut sich, dass der Zustand ihres Sohnes sich bessert. Manchmal antwortet er jetzt sogar, wenn man ihn etwas fragt.

Ella sitzt dabei und lächelt und freut sich auch, aber sie fühlt auch einen kleinen Stich. Sie will nicht, dass Benny wegen einer fremden Frau wieder gesund wird; sie will, dass er gesund wird wegen den Sommern am Meer und Bonifatius und ihr.

Benny braucht doch das echte Meer, denkt sie. Aber vielleicht ist es doch ganz gut, wenn er ein Stück Meer auch am Land bekommt. Vielleicht hilft es ja nur so gut, weil es ihn an die Sommer erinnert. Der Gedanke beruhigt Ella wieder und sie nimmt sich vor, ganz viele Muscheln mit ihrem Bruder zu sammeln, die er mit zu seinen Stunden nehmen kann, auch wenn sie eigentlich schon viel zu alt ist für so einen kindischen Zeitvertreib. Doch ihre Klassenkameraden können sie nicht sehen und sich nicht über sie lustig machen, weil sie am Meer spielt wie ein kleines Kind, mit einem alten T-Shirt über dem Badeanzug anstatt sich im knappen Bikini am Strand zu sonnen. Sollen sie ruhig denken, sie hat den perfekten privaten Strandurlaub, auch wenn es nicht das Mittelmeer oder der Atlantik ist.

Also zieht sie mit Benny los, nachdem sie sicher ist, dass er sich auch eingecremt hat, mit einem großen roten Eimer die ganze Felsenküste von Großvaters Haus und vom Dorf weg, da wo man nur klettern, und nicht nett spazieren oder baden kann.

Es macht ihr mehr Spaß als sie gedacht hätte, zwischen den Felsritzen nach kleinen Seesternen und Krabben und Muscheln zu suchen und dann den vollen Eimer mit beiden Händen zurück zu schleppen und in die große Blechwanne zu kippen, die Bonifatius aus dem Schuppen herausgeholt hat.

Jeden Tag wird sie voller mit ihren Fundsachen, auch wenn es Benjamin weit mehr Spaß zu machen scheint, die langen, schleimigen Algen aufzusammeln, die überall an den Felsen hängen und an den Strand gespült werden. Meistens nimmt er einen Stock und zieht ihn durch die grün durchzogenen Pfützen, bis er ihn mit triefender Spitze wieder herauszieht und lacht, wenn die Algenfäden sich wie Oktopusarme um sein Handgelenk winden.

Dann schimpft Ella mit ihm und nimmt ihm sein Spielzeug weg, weil sie gelesen hat, dass Algen oft giftig sein können, aber wenn er sie mit traurigen Augen anschaut, gibt sie ihm die Algenstöcke immer zurück und lässt zu, dass er sie in die Wassereimer wirft, die immer mehr aussehen wie schwimmende Regenwälder.

Zugegeben, sie ist glücklich, dass er sich viel mehr für die Algen interessiert als die Muscheln. Die Therapeutin hat keine Algen in ihrer Praxis.

Dann aber ist die Wanne voll, und Ella will nicht loslaufen nur um die Eimer wieder ins Meer kippen zu müssen, also beschließt sie, einfach einen schönen Tag am Strand mit Benny zu verbringen, während Großvater Bonifatius mit dem Sohn eines alten Kollegen hinausfährt, um ihm beim Manövrieren um die Sandbänke zu helfen.

„Pass auf Ella auf" sagt er zu Benjamin, bevor er ins Auto steigt, „Du bist jetzt der einzige, der sie herausziehen kann, wenn sie vom Steg fällt."

Er zwinkert ihr zu und sie kann ihm nicht böse sein, vor allem weil Benny strahlt und nickt, und sich über die Verantwortung freut.

„Nicht Ella", sagt er später, als sie sich umgezogen hat und raus an den Strand will, selber nur noch in der Badehose. Er stellt sich in die Tür und zieht ernst die Augenbrauen zusammen.

Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt