10. Sommer

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Seit sie das goldene Schwimmabzeichen hat, wird Ella übermütig. Sie weiß, tief in ihrem Kopf, dass die Strömungen im Meer etwas anderes sind als das stille Hallenbad zuhause, aber sie schwimmt zu gerne, um sich von Benjamins wütenden Warnungen über Ebbe und Flut abhalten zu lassen, als sie endlich wieder bei Bonifatius sind. Manchmal geht sie morgens vor dem Frühstück schwimmen, sie springt vom Steg und krault hinaus in die Weiten des Meeres, bis sie das Haus nur noch klein am Strand erkennen kann. Dann redet Benjamin nicht mehr mit ihr. Es ist seltsam, dass es so stark auffällt, wo er doch ohnehin kaum redet, aber dann stürmt er laut summend aus dem Zimmer, wann immer sie herein kommt. Es ärgert sie, dass er ihr das Schwimmen nicht gönnt.

„Es ist nicht dein Meer!", erklärt sie ihm ungehalten, „Nur weil ich jetzt besser schwimme als du, ist das kein Grund, so beleidigt zu sein!"

„Bleib", sagt er nur, „Ebbe ist gefährlich."

Sie stöhnt und gibt es auf mit ihm zu diskutieren, weil er sie ja doch nicht versteht.

„Ich gehe schwimmen", verkündet sie trotzig.

„Bleib!", schreit er und stampft auf den Boden wie ein Kleinkind.

„Er macht sich nur Sorgen", sagt Bonifatius, als sie sich bei ihm beschwert, „Du solltest wirklich nicht so weit rausschwimmen."

Sie taucht vom Steg ins Wasser während Benjamin hinter ihr am Strand böse mit den Muscheln flüstert. „Ich sag bleib, sie geht", beschwert er sich, „Selber schuld, pah."

Ella taucht unter Wasser, um seine Stimme nicht mehr hören zu müssen, so lange, bis sie keine Luft mehr hat und sich vom Boden abstoßen will. Aber sie kommt nicht nach oben. Irgendwie haben sich ihre Füße im Seetang am Meeresgrund verfangen und lassen sie nicht los. Sie gerät in Panik. Die Oberfläche des Meeres ist über ihr, nah genug, um sie in wenigen Sekunden zu erreichen, aber sie hat jetzt schon keine Luft mehr und ihre Füße hängen fest.

Sie schließt die Augen und denkt an Benny, der so darauf beharrt hat, dass sie in der Nähe bleibt. Ihr wird schwindelig vom Sauerstoffmangel und als sie daraufhin die Augen wieder öffnet, schwimmt er vor ihr im Wasser, grinsend, bevor er abtaucht und sich an ihren Füßen zu schaffen macht. Sie schnellt nach oben wie ein aufgeblasener Luftballon und schnappt so hastig nach Luft, dass sie sich verschluckt.

„Danke, Benny", flüstert sie beschämt, als er neben ihr auftaucht. „Du hattest Recht.

„Das Meer ist gefährlich", sagt er nur und strampelt auf dem Rücken zurück zum Ufer.

„Ja", sagt sie und versucht den Knoten in ihrem Magen wegzudenken, als sie ihm folgt. Das Meer hätte sie fast umgebracht für ihren Leichtsinn. Es ist kein Spielplatz mehr für sie. Sie kann das Wasser kaum noch betreten, ohne dass sie sich daran erinnert, wie ihr fast die Luft ausgegangen wäre.

Der Sommer, in dem sie anfängt, viel zu schwimmen, ist auch der Sommer in dem sie ganz damit aufhört.







Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt