Teil 7

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Das Lachen der Meerjungrauen durchdrang sie, als sie sich langsam zur Luke vorarbeiteten.

„Meer", murmelte Benjamin, „Meer und Tod."

„Nichts mit Tod", sagte Ella so sicher sie konnte und schob ihn nach unten. „Wir leben, Benny."

Während dem Sturm war Wasser unter Deck geraten, dass am Ende der steilen Treppe fast knöcheltief stand und von ihnen durchwatet werden musste, um in die weiterhin trockene Küche zu kommen.

Das Wasser war trüb, sodass Ella trotz der geringen Tiefe den Fußboden darunter nicht mehr sehen konnte und sie befürchtete für einen kurzen, sinnlosen Moment, dass der Boden gänzlich verschwunden war und das Meer den Fischkutter von unten eroberte. Aber als sie den ersten Fuß in das kalte Nass setzte, trat sie fast sofort auf den Boden auf. Sie atmete erst erleichtert aus, als sie das Wasser hinter sich gelassen hatten.

Benjamin hing spannungslos an ihr, nur die kleinsten Anstrengungen zeigten, dass er nicht bewusstlos war.

12 Jahre, hörte sie die Stimme, trotz der geschlossenen Luke über ihnen genauso klar wie an Deck. 12 Jahre mussten wir warten für den richtigen Augenblick.

Ella meinte, eine Antwort von Bonifatius zu hören, aber seine Worte drangen nicht durch die Wände.

Wir haben die eine Hälfte. Wir wollen die andere.

Ella bugsierte ihren Bruder auf die Bank und schob sich neben ihn. Das Schiff schaukelte nur sanft unter den leichten Wellen, die es gegen die Sandbank drückten, aber ihr war trotzdem übel.

„Was bedeutet das alles, Benny?", seufzte sie und betrachtete ihn. Er richtete seine Augen starr auf das Bullauge, auch wenn dort nur Nebel zu sehen war.

Einen Tausch? Was haben wir von einem Tausch, alter Mann? Was kann uns deine Seele geben, was seine nicht kann?

Je mehr Ella von der einseitigen Unterhaltung mitbekam, desto mulmiger wurde ihr. Was bedeutete das alles? Sie erinnerte sich an Geschichten, die Bonifatius erzählt hatte, Geschichten von bösen Wassergeistern und verlorenen Seelen, auch von Meerjungfrauen die junge Männer mit ihrem Gesang in den Tod lockten, aber selbst wenn sie sich jede dieser Geschichten in Erinnerung rief und für wahr hielt, erklärte es immer noch nicht, warum sie hier auf der Sandbank lagen und grässliche Meerjungfrauen sie umkreisten.

Hinter ihr klopfte es ans Fenster.

Benjamin drückte plötzlich beide Arme gegen den Tisch, als wollte er sich so weit in die Wand pressen, wie nur irgendwie möglich.

Sie drehte sich langsam um. Ein Gesicht starrte durch das Bullauge zu ihnen herein, dünn und ausgezerrt wie ein Totenschädel, die Augen groß und dunkel und leuchtend, den Mund voller messerscharfer Zähne weit aufgerissen.

Verstecken in unserem Reich? Niemals!

Ella schrie und prallte ebenfalls zurück gegen die Wand, wo sie sofort nach Benjamins Schulter griff. Bei einem zweiten Blick zum Fenster war die Meerjungfrau verschwunden.

Ihr Bruder sackte unter ihrem Griff mit einem lauten Prusten in sich zusammen, bevor er wieder einen tiefen Atemzug tat und sich sein Körper anspannte. Er sah zu Ella, und seine Augen leuchteten wieder wie die der Meerjungfrau am Fenster.

Unsere Macht ist weit und herrlich", sagte er mit der Stimme der Meerjungfrauen. Sein Blick durchdrang sie wie ein Speer, als sie ihn losließ und vor ihm zurückwich.

„Benny", flüsterte sie, „Hör auf damit."

Das Meer ist unser und unser allein", fuhr er fort, „Die verlorenen Seelen sind unser Eigentum und unser geborenes Recht."

Sie stolperte rückwärts von ihm weg durch den Flur zur Treppe hin. Er kam beständig auf sie zu, das Gesicht leer, seine Bewegungen steif und unbeholfen.

„Benny!", rief sie, „Komm zu dir, bitte!"

Sie erreichte das Wasser und konnte schwören, dass eine Hand an ihrem Knöchel zog, worauf sie das Gleichgewicht verlor und gefallen wäre, wenn sie sich nicht an der Treppe festgehalten hätte.

Unser Recht blieb unerfüllt, damals vor 12 Jahren. Unsere Rufe wurden gestört und nicht beantwortet." Die Stimme schwoll an, als Benjamin sie fast erreicht hatte. „Das Land hat unser Recht gestohlen. Wir fordern ein, was unser ist."

Ella duckte sich hinter die Treppe und schloss die Augen, in voller Erwartung dass Benjamin jederzeit nach ihr greifen würde. Doch sie hörte nur das Knarzen der Treppenstufen, als er vor ihr nach oben kletterte.

Vereinigt wird was vereinigt gehört", rief die Stimme.



Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt