9. Sommer

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Und dann ist da der Sommer, in dem Max sie besuchen kommt.

Ella kann an nichts anderes mehr denken, denn sie mag Max. Ziemlich sehr sogar. Weil er lacht und seine Haare nach hinten wirft, weil er zwinkert, wenn er mit ihr redet, weil er ihr eine CD mit Rockmusik gebrannt hat. Sie sitzen manchmal zusammen beim Mittagessen in der Schule, und er hat sie zum Eis-Essen vor den Ferien eingeladen. Alles ist, wie sie es sich immer vorgestellt hat, neu und aufregend.

Sie hat ihm erzählt, dass sie mit ihrem Bruder zu Großvater Bonifatius fährt, und er hat gelacht, weil er auch in der Gegend Urlaub macht.

Dann hat er sie gefragt, ob er mit seinem Motorroller zu ihr an die Küste fahren kann und sie besuchen.

Spaziergänge am Meer, Sonnenuntergang zusammen auf dem Steg.

Natürlich kann sie an nichts anderes denken und zugegeben, sie vernachlässigt ihren Bruder darüber ein wenig, wenn sie auf der Veranda sitzt und mit roten Backen Textnachrichten auf ihrem alten Handy schreibt.

„Ella, ich mag ihn nicht", sagt Benjamin eines Abends, während er sie von der Seite beobachtet.

Sie ist verwirrt.

Selbstverständlich ist ihr erster Gedanke, dass Benny Max meint, aber die beiden haben sich noch nie getroffen, und Ella redet nicht viel über ihn, wenn Benjamin dabei ist.

Über die Zeit hat sie gelernt, Bennys seltsamen, fast übernatürlichen siebten Sinn zu akzeptieren, deshalb lächelt sie nur und beruhigt ihn.

„Benny, Max ist nett und lieb und intelligent ...", versucht sie ihm zu erklären, aber er schüttelt stur den Kopf, dass seine Locken nur so zur Seite fliegen.

„Ich mag ihn nicht", wiederholt er fest und presst die Lippen zusammen.

„Du wirst ihn mögen, wenn du ihn erst triffst", sagt sie schließlich, ihrer Aussage sicher. Max ist so wundervoll, und Benny ist klug, er wird das auf jeden Fall erkennen, wenn sie die beiden erst einmal einander vorgestellt hat.

Dennoch ist sie nervös. Was, wenn Benny Max wirklich nicht mag?

Kann aus ihnen dann überhaupt etwas werden, oder wird ihr Bruder sich nur immer aufregen, wenn Max kommt?

Ella löscht die Gedanken aus ihrem Kopf, wie sie alte Nachrichten aus ihrem Handyspeicher löschen muss. Alles wird schon gut gehen, dessen ist sie sich sicher, jung und verliebt wie sie ist.

Und dann kommt er, der große Tag, und Max fährt mit seinem Roller den schmalen Weg hoch. Sie kann ihn hören, bevor er ganz vor dem Haus ist, und sieht heimlich zu, wie er den Helm abnimmt und die Haare nach hinten wirft.

Das Haus hat keine Klingel, also klopft er, laut und sicher.

Bonifatius lächelt milde, als Ella zur Tür eilt.

Benny brummt ungehalten und das Abendessen wird knapp und still, obwohl Max, so wundervoll wie er ist, sein bestes tut um sich mit Ella zu unterhalten und Großvater Bonifatius respektvoll danach zu fragen, ob er den Fisch wohl selber eingelegt hat.

Doch Benjamin starrt ihn an, die ganze Zeit, während er langsam die Finger zum Mund schiebt, und langsam wird Max stumm und nervös.

Ella beeilt sich, ihn nach draußen zu schieben, entschuldigt sich kurz und rennt wieder hinein und zischt ihren Bruder wütend an, wie er es denn wagen kann, ihren perfekten Abend kaputt zu machen.

Ohne Benny ist es einfacher mit Max, viel einfacher. Natürlich, denkt Ella und will sich im nächsten Moment am liebsten vor Scham von den Klippen stürzen, weil sie doch so nicht über ihren Bruder denken darf.

Aber die Scham ist schnell vergessen, denn Max ist lieb und nett und es ist einfach sich mit ihm zu unterhalten, und die Zeit fliegt davon.

Es ist Sonnenuntergang, der Moment, den sie so herbeigesehnt hat, all den alten Schundromanen ihrer Mutter sei Dank.

Etwas verlegen fragt sie Max, ob er mit auf den Steg kommen will, damit alles perfekt und romantisch wird, und fast jubelt sie laut als er mit einem Lächeln sofort folgt.

Die Möwen kreischen, der Himmel färbt sich rot und auch wenn sie viel zu aufgeregt ist, um klar zu denken, nähern sich ihre Lippen denen von Max, nur noch wenige Zentimeter jetzt -

Da fliegt drinnen an den Klippen die Tür des Hauses auf und Benny schreit laut: „Ella! Meer! Ella! Meer!" und sie zucken beide zusammen und sehen zum Ufer, wo Benjamin zornig den schmalen Klippenweg hinauf stürmen will.

Es ist schon ein Reflex, dass Ella den ersten Schritt in seine Richtung tut und seinen Namen ruft, laut und besorgt, weil sie weiß wie schnell er dumme Dinge tut, wenn er diese Laune hat.

„Lass ihn doch laufen", sagt Max leise und lächelt wieder so unverschämt lieb, doch irgendwie - vielleicht liegt es am Licht? - wirkt dieses Lächeln seltsam und falsch, und wie wagt er es überhaupt, wenn sich Benny jederzeit den Hals in den Klippen brechen könnte, wenn er in dieser Laune ist?

Sie tut so, als hätte sie nicht gehört und rennt, laut rufend, den Steg hinauf.

„Komm schon, der Spast soll uns doch nicht den Abend versauen."

Ella friert ein, kann nicht anders.

„Hau ab", sagt sie ruhig, auch wenn sie schreien will. „Lass Benny in Ruhe."

Sie hört die Schritte von Max auf dem dumpfen Holz und sein angewidertes Murmeln: „Hätt ich mir echt denken können, dass du auch so verrückt bist. Alles Assis hier, Mann."

Er ist sofort weg und Ella versucht nicht an seine Worte zu denken, als sie hinter Benny her rennt, der rasend schnell ist, viel schneller als sie ihn je erlebt hat, doch die Worte trommeln ihr wie ein Hagelsturm durch den Kopf.

Spast, verrückt, nicht mehr ganz richtig. Und während ihre Füße auf den Boden hämmern bis ihr ganzer Körper pocht, laufen ihr die Tränen aus den Augen.

Sie reißt Benny härter am Arm als sonst, und ihre Stimme ist lauter, aber da ist eine Erleichterung in ihr, als sie ihn endlich erreicht, die für das gebrochene Herz erstaunlich lindernd wirkt.

Der Schmerz ihrer verpassten Liebe sitzt tief, und sie redet kaum mit ihrem Bruder die nächsten Tage, aber sie erkennt, zwischen all den Tränen, dass kein Mann es je wert wäre, Benny für ihn aufzugeben.




Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt