Teil 6

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Als die Schwärze sie zu übermahnen drohte, ging ein plötzlicher Ruck durch das Schiff und drückte sie alle gegen das Deck. Ellas Körper zwang sie zu atmen, doch anstatt dass wie erwartet das Wasser ihre Lungen zum letzten Mal füllte, atmete sie reine Luft ein, schwer mit Salz und dem Geruch von Seetang.

Es fiel ihr schwer, sich zu orientieren. Unter ihr schaukelte das Schiff, aber es war um einiges ruhiger als das, was sie gerade noch durchgemacht hatten. Dazu war es unglaublich leise. Das einzige, was ihre Ohren nach dem lauten Sturm noch vernahmen, war das Geschrei einer einzelnen Möwe.

Als ihr langsam dämmerte, dass sie sich außer Gefahr befinden mussten, drückte sie sich hastig nach oben. Die Sonne stach ihr grell ins Gesicht, zusätzlich reflektiert vom Wasser. Sie sah sich um.

Der Fischkutter sah besorgniserregend aus - große Löcher zierten das Deck, dort wo die Reling um Bug und Heck aus Holz bestand, war sie fast vollständig herausgebrochen. Der Mast hing im unteren Drittel geknickt und nutzlos nach unten.

Dafür hatte sich der Sturm fast ins Gegenteil verkehrt. Nicht nur Wind und Regen waren gänzlich abgeflaut, das Meer lag so spiegelglatt um sie herum, als wäre es nie aufgewühlt worden. Nur seine gräulich grüne Farbe erinnerte noch an das Chaos.

Ella rannte zur Reling um sich zu vergewissern, dass auch nichts unter ihnen lauerte, dass sie als nächstes drohte in ihr nasses Grab zu ziehen. Vor Freude hätte sie am liebsten geweint, als sie erkannte, dass das Schiff seitlich auf eine Sandbank gespült worden war - sie wusste, dass auch eine Sandbank auf hoher See nichts Gutes verhieß, aber sie nahm das kleinste Zeichen von festem Grund unter ihnen dankbar an.

Sie hörte Bonifatius hinter sich husten und spucken und eilte zu ihm und Benjamin zurück.

Er wartete kaum, bis er alles Wasser in seinen Lungen los geworden war, bevor er sich neben seinen Enkel kniete, seinen Puls fühlte und seinen Atem prüfte.

„Er lebt, Ella", sagte er schließlich, „Aber ich weiß nicht, was für innere Verletzungen von seinem Sturz davon getragen hat. Wahrscheinlich ist es am besten, wenn nicht versuchen, ihn zu bewegen."

Er richtete sich ächzend auf, die Knie steif. Die Kraft, die er während dem Sturm gezeigt hatte, schien ihn wieder verlassen zu haben.

„Der Sturm ist vorbei", sagte sie ihm, „Wir müssen nur warten, bis uns jemand findet."

Bonifatius nickte bedächtig.

„Ich werde versuchen, einen Notruf abzugeben", sagte er, „Bleib bei deinem Bruder."

Sie nickte entschlossen und sah zu Benny, der wieder ausgestreckt und regungslos auf den Planken lag, die Augen dieses Mal geschlossen.

Als Bonifatius verschwunden war, holte er tief Luft, ballte die Hände zu Fäusten und riss die Augen auf.

„Benny!", rief sie glücklich und kam zu ihm nach unten. Er versuchte sich hochzurollen ohne seine Hände als Stütze zu nehmen und sie legte ihm als Hilfestellung einen Arm unter die Schultern. Bonifatius' Warnung über mögliche innere Verletzung echote schwach durch ihren Kopf, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Es war bereits so viel Seltsames mit Benjamin geschehen, da war es nur gerecht, wenn er auch den Sturz ohne Probleme überstanden hatte.

„Geht es dir gut?", fragte sie leise, nachdem er sich aufgesetzt hatte, obwohl sie wusste, wie unwahrscheinlich eine Antwort von ihm war.

„Sie sind hier", flüsterte er und Ella erstarrte.

Im gleichen Moment kam Bonifatius zurück zu ihnen.

„Die Instrumente sind tot", sagte er, „Wir können weder einen Notruf absetzen, noch unsere Position bestimmen."

Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt