8. Sommer

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Den Sommer, in dem Benny verschwindet, wird Ella nie vergessen.

Es ist Nacht, eigentlich würde sie ja schlafen, aber irgendetwas weckt sie, ein dumpfer Schlag oder ein Poltern, genau kann sie das nicht sagen und dann ist ihr Hals so trocken und sie geht in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen.

Sie fühlt, dass etwas nicht stimmt, als sie an Bennys Tür vorbeigeht. Er ist sonst stabil, nachts, wandert nicht rum und versucht auch nicht, sich davonzustehlen, selbst wenn sie ihn den ganzen Tag lang drinnen gehalten haben und er frustriert an der Tür gerüttelt hat.

Jetzt schaut sie in sein Zimmer, und Benjamin ist verschwunden. Das Bett ist ungemacht und sein Schlafanzug liegt nachlässig auf den Boden geworfen, seine Jeans und sein T-Shirt sind verschwunden, genau wie draußen im Flur seine Stiefel und die Öljacke.

Vor der Hütte regnet es auch noch, und Ella meint Blitze gesehen zu haben, als sie zu Großvater Bonifatius' Tür stürmt und panisch klopft.

„Benny ist weg!", ruft sie wieder und wieder, und hört auch nicht auf, als Großvater Bonifatius hastig aus dem Zimmer kommt und sich noch den grauen Wollpullover überzieht. Er holt die helle Sturmlampe aus dem Schrank, die so weit leuchten kann, und eine kleinere Taschenlampe für Ella, und so in Eile hat sie ihn noch nie erlebt.

Er ist nervös, als sie Jacken und Stiefel anziehen, so nervös, dass er den Ärmel nicht sofort findet, und das macht ihr fast mehr Angst als das bloße Verschwinden Bennys.

Sie laufen den Klippenweg hoch, während der Regen auf sie einprasselt und der Wind unheimlich durch die Felsritzen heult, zu allen Seiten leuchtend, hoffend auf den Weg, ängstlich auf die scharfen Felsen. Bestimmt ist Benjamin hier entlang gegangen, und nicht die breite Straße vom Strand weg, aber ihm könnte hier so viel mehr passiert sein...

Gerade als sie die erste Erhebung im Weg erreichen, steht Benjamin plötzlich vor ihnen, die blonden Locken zerzaust und nass, und kneift die Augen zusammen.

Bevor Ella rennen und ihn umarmen kann, ruft er laut: „Help! Help!" in einem seltsamen Akzent, und dann macht er auf dem Absatz kehrt und läuft wieder vor ihnen weg.

„Ben!", brüllt Bonifatius, und dann rennt er auch, und Ella kann kaum mithalten.

Dafür, dass Benny kein Licht hat, ist er unglaublich, unnatürlich schnell und was nach einer kurzen Verfolgungsjagd ausgesehen hat, wird zu einem langen Rennen in dem Ellas Herz viel zu laut pocht, weil sie sich nicht nur anstrengt, sondern auch furchtbare Angst hat, dass Benny von den Klippen fällt.

Doch dann bleibt Benny stehen, und da sind andere Rufe - „Help! Help!", im gleichen Akzent, den ihr Bruder gerade imitiert hat, der jetzt vollkommen ruhig und besonnen am Klippenrand steht, so als wäre nichts geschehen.

Bonifatius leuchtet nach unten, und da sind Menschen auf den Klippen, und Trümmer schwimmen um sie herum und sie schreien in fremden Sprachen und winken.

„Geh zurück und ruf die Polizei", sagt Bonifatius, und jetzt ist er wieder ganz ruhig.

Ella fasst Benny bei der Hand, und sie rennen.

Benjamin steht am nächsten Tag in der Zeitung, als wundersamer Retter in der Not. Keiner weiß, wie er von den Schiffbrüchigen wusste, so weit weg von ihrem Haus, wie sie waren, und er gibt natürlich keine Antwort, als die Polizei ihn fragt.

Ella schließt die Augen und ist stolz auf ihren Bruder und froh, dass das Meer in seinem Kopf doch zu etwas gut ist.

Manchmal kann ein schlechtes Besonders eben doch ein gutes Besonders sein.



Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt