6. Sommer

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Diesen Sommer ist Ella wütend.

„Ben, Ben, Ben!", murmelt sie vor sich hin, die Fäuste geballt, als sie auf ihren Großvater warten.

„Was, was, was?", antwortet ihr Bruder heiter, und sie will ihn dafür würgen, dass er auf einmal beschließt, auf den Namen zu hören, ausgerechnet jetzt.

Zu frisch klingt ihr die süßliche Stimme der neuen Sozialarbeiterin noch nach, die ihr die Augen geöffnet hat.

„Benjamin heißt du also, ein schwerer Name, ja? Aber ‚Ben' verstehst du doch sicher, nicht wahr?"

Ella glaubte jahrelang, dass sie ihn Ben nannten, weil sie ihn mochten. So lief es doch normalerweise? Man mochte jemanden, und deshalb gab man ihm einen Spitznamen, eine Abkürzung damit man ihn schneller rufen konnte.

Nicht bei Benjamin.

„Ben, Ben, Ben, Ben!", wiederholt sie lauter, ärgerlicher, ihre ganze Wut auf diese drei Buchstaben hinausschreiend, die ihren Bruder so erniedrigen.

Als ob er zu dumm wäre, um seinen eigenen Namen zu verstehen.

Und sie hat es die ganze Zeit zugelassen.

Sie sieht zu Benny, der verloren zum Meer starrt.

Wut.

Ella atmet tief ein und aus und schmeckt das Salz auf der Zunge. Wenigstens ist Benjamin hier sicher von Menschen, die ihn wie ein Kleinkind behandeln.

Doch dann kommt Bonifatius und macht alles zunichte.

„Schön dich wieder hier zu haben, Ben", sagt er, als Benjamin sich überreden lässt, ins Haus zu kommen.

Und Ella schreit ihn an, weil sie nicht ertragen kann, dass ihr eigener Großvater Benjamin in Wirklichkeit auch für einen Dummkopf hält.

Bonifatius steht da während sie all ihre Wut herauslässt, das milde Lächeln auf den Lippen, dass er immer lächelt, wenn sie aufgebracht ist, und dass sie jetzt nur noch wütender macht.

Irgendwann ist sie heiser und muss nach Luft schnappen, und ohnehin sind ihr die Wörter ausgegangen, alles was durch ihren Kopf hämmert ist „Benbenbenbenbenben!", ein dumpfer, bedrückender Rhythmus.

Er nimmt sich ganz ruhig seine Pfeife und setzt sich hin, genau gegenüber von ihr auf Augenhöhe.

„Ich kannte einmal einen Kapitän", beginnt er, wie er so oft seine Geschichten erzählt. „Ben Foster, ein Brite. Er segelte sein Schiff nach dem Weg der Thunfische. ‚Die Tiere haben ein besseres Verständnis vom Meer, als wir es je haben werden', sagte er immer."

„Also war er auch verrückt", sagt Ella bitter und verschränkt die Arme.

„Nein", widerspricht Bonifatius ernst. „Er war einer der weisesten Männer, die ich gekannt habe. Ich verdanke ihm mein Leben."

Und am Abend erzählt er ihnen die Geschichte, wir der seltsame Kapitän Ben Foster ihm das Leben gerettet hat, und Ella vergisst ihre Wut.

Immer, wenn jemand ihren Bruder Ben nennt, denkt sie nun an den tapferen Kapitän, den die Leute auch für verrückt gehalten haben, und der in Wirklichkeit ein Held war.



Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt