12. Sommer

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Die Freundschaft mit Emma hat sich gehalten, zu Ellas großer Freude, denn sie unterhält sich gerne mit ihr oder unternimmt etwas, und im nächsten Sommer ist sie genauso wieder da, weil ihre Familie ein Haus im nächsten Ort hat.

Sie kommt am zweiten Tag, den Ella und Benjamin bei Bonifatius sind, um sie zu begrüßen, mit selbst gebackenen Muffins.

Ella hat am Tag davor Benny kaum aus dem Zug bekommen und ihn heute gerade davon abhalten können, sein Müsli ins Meer zu kippen, deshalb ist sie froh um etwas normale Gesellschaft.

„Komm, wir machen irgendwas", beschließt Emma, wie sie das letzten Sommer auch so oft getan hat.

„Bootfahren", sagt Benny im genau gleichen Moment und Emma verschluckt sich fast an dünner Luft.

„Benjamin, du bist gruselig!", ruft sie aus und Ella schaut etwas schuldbewusst auf den Boden, weil sie weiß, dass ihr Bruder besondere Fähigkeiten hat und ihre Freundin nicht vorgewarnt hat.

Aber Emmas Familie besitzt nicht nur ein Haus an der Küste, sie haben auch ein altmodisches Ruderboot, das seit Jahren im Schuppen Staub ansetzt und ein Ausflug um die Klippen gut brauchen kann.

Ihr Onkel bringt das Boot zum Strandhaus und Emma schaut lachend zum ersten Mal dabei zu, wie natürlich es für Benjamin ist, alles bereit für einen Ausflug aufs Meer hinaus zu machen.

„Ich wusste nicht, dass du ein Seemann bist", sagt sie zu Benny, als sie sanft auf den Wellen schaukeln, und Ella hätte sie fast umarmt so dankbar ist sie für ihre Akzeptanz. Sie reden und lachen und freuen sich darüber, wie aufmerksam Benjamin die Wasseroberfläche betrachtet und die Ruder in die Hand nimmt, um sie um Felsen herumzusteuern, lange bevor die Mädchen selbst das Problem erkannt haben.

Es wäre einer der schönsten Nachmittage des Sommers, doch plötzlich richtet sich Benjamin steil auf und starrt hinaus zum Horizont, mit glasigen Augen und sagt: „Sie brauchen mich."

Dann springt er kopfüber ins Wasser und Ella schreit, während Emma vor Schock weite Augen bekommt und keinen Ton herausbringt.

„Benny! Benny!", ruft Ella und sucht panisch das Meer ab, ob sie seinen Kopf irgendwo zwischen den Wellen entdecken kann, doch es ist, als ob er nie bei ihnen gewesen wäre. Das Meer schwappt unschuldig um sie herum und tut so, als hätte es noch nie einen Menschen verschluckt.

Sie weiß, dass sie hinter ihm her springen sollte und ihn wiederholen, aber sie kann sich nicht überwinden. Emmas Hand auf ihrem Arm soll sie zurückhalten, aber für Ella ist es nur eine gute Entschuldigung für ihre Feigheit.

So suchen sie weiter, bis ihre Stimmen vom Rufen heiser sind und Ella lautlos die Tränen vom Gesicht laufen und sie sich fühlt wie damals, als ihr Bruder weggetrieben ist, nur viel schlimmer, weil er dieses Mal kein Boot hat und sie weiß wie gefährlich das Meer ist - wohl gerade für ihn.

Doch gerade als sie bereit ist, sich selber in die Wellen zu stürzen, all ihrer Angst zum Trotz, hört sie seine Stimme, unwirklich fröhlich und bestimmt.

„Ella! Meer!", ruft er von einem großen Felsen herunter, an dem sie vorbeisteuern und seine Haare sehen aus, als wären sie bereits getrocknet.

Emma schnappt entsetzt nach Luft und Ella bricht in haltloses Gelächter aus, lacht ihre ganze Angst hinaus, denn natürlich geht es Benjamin gut, das Meer ist schließlich da, wo er wirklich hingehört.

Sie versteht es nicht, sie weiß auch nicht, ob sie es verstehen will und sie kann sich glücklich schätzen, dass Emma irgendeine Erklärung gefunden zu haben scheint und nicht schreiend wegrennt, aber es ist das letzte Mal diesen Sommer, dass sie die Küste verlässt.

Ella hat Angst, so große Angst, weil sie nicht sagen kann, selbst nach all den seltsamen Dingen die hier geschehen sind, ob das Meer eine Gefahr für ihren Bruder ist, oder seine Rettung.



Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt