4. Sommer

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Am liebsten will Ella weinen, als ihre Mutter ihr erklärt, dass sie diesen Sommer nicht zu Bonifatius fahren kann, weil sie beim Umziehen helfen soll. Das letzte Jahr hat es doch auch geklappt, da waren sie die ganzen Ferien und länger bei ihrem Großvater und als sie zurückkamen, war die neue Wohnung und ihre Zimmer schon fertig und mit Seesternen tapeziert. Aber diesmal soll Ella dableiben und Boxen ein- und auspacken und streichen und die Nudeln kochen, wenn ihre Mutter wieder so aufgeregt telefonieren muss und dafür keine Zeit hat, während Benjamin ganz allein zu Bonifatius fährt.

„Du bist doch jetzt groß", erklärt ihre Mutter müde, „Da kann ich deine Hilfe gut gebrauchen."

„Aber Benny ist genauso groß", beharrt Ella, „Und sowieso gehören wir zusammen, weil alleine kann er nicht."

Ihre Mutter seufzt und schüttelt den Kopf, „Keine Wiederrede, Ella", sagt sie nur.

Ella hat Angst um sie und traut sich nicht, sich mehr zu wehren, obwohl sie Benny nicht einfach den ganzen Sommer allein zum Meer lassen will, wo sie doch immer auf ihn aufgepasst hat und Großvater Bonifatius zwar auch gut aufpassen kann, aber doch schon so alt und nicht schnell ist wie Ella.

„Ich winke dir zu, bis ich dich nicht mehr sehe", verspricht sie ihrem Bruder, der schon im Auto sitzt und wartet, bis ihre Mutter ihn zum Strandhaus bringt, weil er ja allein nicht Zugfahren kann. „Ich werde dich vermissen", fügt sie leise hinzu und ist noch ein bisschen trauriger, als Benny nur zur anderen Seite aus dem Fenster hinaus starrt, als hätte er sie nicht gehört.

„Denk dran, pack deine Klamotten und Spielsachen in die Kartons. Und mach dir die Suppe im Kühlschrank in der Mikrowelle warm, zwei Minuten", erinnert ihre Mutter sie, und dann sind die beiden weg und Ella darf allein in der neuen alten Wohnung die Sachen zusammensuchen und freut sich fast, als die modrig riechende Nachbarin vorbeikommt um ihr harte Kekse zu bringen.

So geht das ein paar Wochen, erst ist sie allein in der alten Wohnung und dann in der neuen, die wirklich nicht viel anders aussieht, außer dass sie ein bisschen kleiner ist und noch weiter von der Schule entfernt, und meistens ist sie auch wirklich allein, weil ihre Mutter umherfahren und Dinge erledigen muss und arbeiten, damit sie sich die Wohnung überhaupt leisten können.

Die Geräusche um sie herum sind nicht viel anders als sonst, weil Benny ohnehin nicht viel redet und ihre Mutter immer viel geschlafen hat und Fernseher geschaut. Den Fernseher kann Ella auch alleine anmachen und sich vorstellen, ihre Mutter wäre da und würde mit zufallenden Augen auf die flimmernde Box starren, während sie zum dritten Mal diese Woche Grießbrei auf dem Herd macht, das einzige Essen, dass sie wirklich gut kochen kann.

Trotzdem vermisst sie Benny. In den anderen Ferien sind sie ja auch zusammen zuhause, auch wenn Ella da oft noch ihre Freundinnen hat, mit denen sie sich treffen kann und so tun, als wären sie alle Waisenkinder, die herausfinden, dass sie in Wirklichkeit die Prinzessinnen von weit entfernten Königreichen sind. Benny wäre ein wundervoller Prinz an ihrer Seite, und manchmal spielt er sogar mit, wenn der Weg auf der Flucht vom Waisenhaus über den wilden Ozean geht und sie alle schreien und umher schaukeln und Ella die ganzen Kommandos, die sie von Benny kennt hinaus brüllt.

Aber Benny ist weg und ihre Freundinnen sind im Urlaub in Italien und auf Afrikasafari und Tauchen in Ägypten, und wenn Ella nachts schläft hört sie im Traum das Rauschen der Wellen wie einen Gesang der Sirenen, dem sie doch nicht folgen kann, während sich der Sommer träge und langweilig dahinzieht.

Sie liegt lange wach, weil die süßen Träume vom Meer sie so wehmütig machen, und denkt angestrengt darüber nach, warum denn nur alles so langweilig ist, wo sie doch genug mit der neuen Wohnung und Nachbarschaft zu tun hat und sie bei Bonifatius die meisten Tage doch so viel weniger machen, und immer das gleiche, nicht streichen und packen und kochen und umher rennen und neue Dinge erkunden und die ungeschickten kleinen Ausflüge mit ihrer Mutter zum Eis essen und Kino und staubige alte Museen anschauen.

Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt