21. Sommer

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Es vergehen sieben Jahre, bis Ella und Benjamin wieder zum Haus am Strand kommen.

Natürlich ist es Sommer, aber Ella wünscht sich, es wäre Herbst, ein langer, verregneter Herbst, denn der Grund, warum sie hier sind, ist kein schöner.

Bonifatius stirbt.

Ella weigert sich, es zu glauben als ihre Mutter sie anruft und sie zögert die Abfahrt hinaus, als könnte sie dadurch das Ende hinauszögern.

Sie ignoriert die Anrufe von Benny und Jean-Claude und selbst als Emma vor der Tür steht und androht, sie im Schlafanzug mitzuzerren, findet sie eine Ausrede, warum sie nicht fahren kann.

Am Ende ist es David, sanfter, fürsorglicher David, der sie überredet, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. David ist nicht Benjamin, und David ist auch kein Jean-Claude, der verständnisvoll lauscht und alles zu Papier bringt, was sie zusammen erlebt haben, aber Ella kann wirklich nicht noch einen Mann in ihrem Leben gebrauchen, der sie dieselben widersprüchlich großartigen Dinge fühlen lässt.

Er kennt sie nur als angehende-Lehrerin-Ella, und dabei wird es immer bleiben, auch wenn er seit zwei Jahren ihr Mann ist. Es ist eine kleine, stetige Liebe, wie ein Tag in der Sonne, in die sie sich zurücklehnen kann und die Augen schließen. Sein liebevoller Realismus bringt sie zur Besinnung.

„Du liebst deinen Großvater, du kannst ihn nicht einfach im Stich lassen, wenn es womöglich seine letzten Wochen sind", sagt er und damit ist es entschieden, es sind ohnehin Ferien und Ella packt ihre Sachen und fährt zum Strandhaus, wo Benjamin und Jean-Claude bereits auf sie warten und Bonifatius sie erst begrüßen kann, als sie in sein Zimmer kommt, wo er das Bett kaum noch verlassen kann.

„Ah, Ella", sagt er und seine Stimme klingt so alt und brüchig wie sein Gesicht aussieht und Ella atmet tief durch als sie näher kommt, „Ich habe dich vermisst."

Sie fühlt sich schuldig, sie hat ihn kaum gesehen die letzten Jahre, ihr Beruf, ihre Ehe, ihre Freunde waren immer wichtiger und als sie gemerkt hat, wie er schwächer wurde, da hat sie sich nicht mehr getraut, genau diesen Moment fürchtend, wo sie an seinem Bett steht und weiß, dass es bald vorbei ist.

„Ich dich auch", flüstert sie und nimmt seine Hand. „Es tut mir leid."

„Ist schon gut", antwortet er und hustet, „Du bist ja jetzt da. Ihr beide seit da."

Ella denkt kurz an ihre Mutter, die arbeiten muss und fragt sich, warum Bonifatius sich um sie keine Gedanken macht, aber sie fühlt sich schon schlecht genug und lässt es wieder sein.

„Ella", ruft Benjamin sie leise von der Tür, „Zeit zum Essen."

Sie wirft einen Blick auf ihren kranken Großvater als sie das Zimmer verlässt und betet, dass er nach dem Essen noch genauso dort liegt, damit sie ihm all das sagen kann, was sie schon seit Jahren hätte sagen sollen.

Das Abendessen findet in Stille statt. Ella sieht die Blicke, die Benjamin und Jean-Claude austauschen, beschließt aber, sie nicht zu beachten als sie ungewöhnlich dicht über ihrem Teller hängt. Sie will nicht mit ihnen reden. Sie will nicht denken.

Beide sehen gut aus, bemerkt sie, entspannt und zufrieden, obwohl Bonifatius im nächsten Zimmer liegt und seine Tage gezählt sind und sie nicht mehr als frühe Beerdigungsgäste sind.

Sie wirft das Besteckt auf den Teller und steht auf.

„Ich geh raus", verkündet sie und flüchtet aus der Küche.

Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt