2. Sommer

473 94 7
                                    


2

Bis zum ersten Sommer danach hat sich viel verändert.

Ella geht jetzt in die Schule, aber Benny muss noch warten. Ein paar Wochen sind sie zusammen gegangen, doch Ella hat schnell gemerkt, dass ihr Bruder anders ist als die anderen Kinder. Ganz anders.

Benjamin hat sich verändert, seit dem Zwischenfall, wie es ihre Eltern mit gesenkter Stimme nennen. Er hatte nicht angefangen zu sprechen, bis er dreieinhalb war, und hatte sich auch dann immer nur mitgeteilt, wenn es nötig war, aber nachdem er wieder aufgewacht ist, hört er ganz zu reden auf.

Es ist nicht so, dass er keine Wörter mehr benutzt.

Aber was er sagt, ergibt keinen Sinn mehr. Nichts, was er macht, ergibt noch Sinn.

Den ersten Tag, den er wieder zuhause ist, steht er am Waschbecken und betrachtet konzentriert das laufende Wasser.

Als sie den Zoo besuchen, presst er für drei Stunden Nase und beide Hände an das große Aquariumsbecken, bis er Durst bekommt und sich ohne ein Wort die Wasserflasche aus dem Rucksack ihrer Mutter nimmt.

Ihre Eltern gehen mit ihm zum Arzt, und dieser ist ratlos.

„Ich würde es jederzeit als Autismus diagnostizieren", sagt er, „Aber wenn er sich bisher normal entwickelt hat - Autismus ist genetisch bedingt, es hätte davor schon Anzeichen geben müssen... dazu die seltsame Hingezogenheit zum Meer. Aber wer weiß, was da alles möglich ist. Die Wissenschaft hat noch so viel zu leisten. Wir werden es mit den klassischen Methoden versuchen. Einzeltherapie empfiehlt sich auf jeden Fall."

Ella versteht nicht viel von dem, was dieser und die vielen anderen Ärzte über Benny gesagt haben. Sie weiß, dass er besonders ist, und dass andere Leute glauben, dass er krank ist.

Aber sie weiß es besser als diese Leute, und diesen Sommer teilt sie es zum ersten Mal mit.

„Ihm ist so viel Meerwasser in den Kopf gelaufen, dass er an gar nichts anderes denken kann", flüstert sie Großvater Bonifatius ins Ohr, als er sie abholt.

Daran hat sie das ganze Jahr festgehalten, all die Male, die Benny sie mit seinem wirren Gemurmel von Fischen und Schiffen und Wasser verwirrt hat.

Benjamin hat nur Meer im Kopf.

„Ich weiß nicht, ob wir ihn kommen lassen sollen", hat ihre Mutter gesagt, „Er hat bestimmt ein Trauma."

Ella weiß nicht, was ein Trauma ist, aber sie weiß, dass Benjamin mit zu Bonifatius ins Strandhaus kommen muss, weil er doch immer vom Meer redet. Und ihre Eltern sind froh, nach einem Jahr endloser Arzt- und Therapiebesuche, Gesprächen mit Psychologen und Sozialarbeitern, Schuldirektoren und Privatlehrern, dass sich Bonifatius bereit erklärt, die beiden Kinder in seine Obhut zu nehmen.

Obwohl Benny jetzt Meerwasser im Kopf hat und deshalb nur noch selten versteht, was man ihm sagt.

Der Sommer tut ihm gut.

Er sitzt oft den ganzen Tag am Strand, oder auf dem Steg und schaut hinaus auf das Meer. Großvater Bonifatius versucht nicht, ihn zu anderen Aktivitäten zu zwingen, wie es ihre Eltern getan haben. Er trägt keinen um sich schlagenden Benny zu seltsamen Treffen mit seltsamen Kindern.

Stattdessen erzählt er Benjamin und Ella Geschichten von der Zeit, als er noch jeden Tag zur See gefahren ist, von tobenden Stürmen, brechenden Masten und tagelangen Flauten.

Benny starrt ihn dabei die ganze Zeit an, und deshalb fängt Bonifatius an, ihm jeden Abend Seemannsbücher vorzulesen.

Am nächsten Tag murmelt Benjamin oft die Begriffe vor sich hin, die er gehört hat: „Refft die Segel!", „Leinen los!" und „Mann über Bord!"

Eines Morgens wacht Ella auf und er kann lesen. Er hat das Buch vor sich aufgeschlagen, das ihr Großvater am Abend davor nicht mehr ganz geschafft hat, und flüstert angestrengt die Worte nach.

Ella ist stolz auf ihn, weil er lesen kann. Sie hat gemerkt, dass er nicht so viel lernt wie sie, und sie will, dass er genauso viel kann.

Sie rennt zu Bonifatius und erzählt ihm die Neuigkeiten.

Er lächelt - ein echtes Lächeln - und nickt wissend.

„Gute Arbeit, Offizier", lobt er Benjamin beim Frühstück, und dieser strahlt. Es ist eines der wenigen Male, die er tatsächlich bei ihnen ist.

Ella findet es viel einfacher hier mit Benny zu leben, weil sie sieht, wie glücklich er manchmal ist.

Meistens starrt er zwar genauso in die Ferne wie zuhause, aber niemand mustert ihn abfällig von der Seite oder fragt, was falsch in seinem Kopf ist.

Und natürlich hat er das Meer, über das er nie den Mund halten kann.

„Schau, Ella", sagt er einmal und bedeutet ihr ruhig zu sein, als sie auf den Steg kommt, um ihn vor Einbruch der Nacht zu holen.

Er zeigt auf eine Wolke, die von der untergehenden Sonne warm gelb gefärbt ist.

„Meine Haare." Er zeigt auf sich.

Dann lacht er laut. „Meine Haare über dem Meer!"

Sie ist glücklich, weil er glücklich ist, und weil er ihr zum ersten Mal seit langer Zeit erlaubt, ihn zu umarmen.

Ella hat das ganze Jahr Angst gehabt, ihren Bruder zu verlieren. Aber da auf dem Steg, da gehören sie für einen Augenblick ganz zusammen.

Und sie ist sicher, dass sie Bennys Meer im Kopf durchschwimmen kann, wenn es gerade ruhig ist und sie nur genug kämpft.



Der Junge mit dem Meer im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt