Text von @alienblues - danke für deine Einsendung :33
-Die alte schwere Tür des Dachbodens knarrte laut auf als die alte Dame sie langsam aufstieß. Ein bekannter Geruch nach Moder und alten Sachen stieg ihr in die Nase. Mit leerem Blick scannte sie den Raum und ging mechanisch weiter hinein. Die Luft war stickig und in den einzelnen Sonnenstrahlen, die den dunklen Raum beschienen tanzten die Staubkörner vor sich hin.
Zielstrebig durchquerte die alte Dame den Raum bis dahin wo das Sonnenlicht nicht mehr hinkam. Früher war ihr der Raum nicht so lang vorgekommen. In der hintersten Ecke, wo man kaum auch nur die Hand vor Augen sehen konnte fand sie das was sie suchte. Mit zittrigen Fingern durchwühlte sie langsam aber bestimmt den nicht gerade kleinen Stapel voller Blätter. Von ganz unten, dem Fuße des Kartons zog sie ein einziges Bild hervor. Wie ferngesteuert betätigte sie die kleine Lampe, die wie auch schon vor zwanzig Jahren nur für einen kleinen Lichtstrahl in der Lage war und ließ sich auf den schmalen Klappstuhl fallen, auf dem sie früher so gerne Platz genommen hatte. Ehrfürchtig und mit einem seltenen glänzen in den Augen betrachtete sie das vergilbte Bild in ihrer Hand. Vorsichtig strich sie die dicke Staubschicht die sich auf dem Bild nach all den Jahren gebildet hatte beiseite und betrachtete es nachdenklich.
Darauf war eine junge, wunderschöne Frau zu sehen. Ihre dunklen, wilden Locken wurden von dem tosenden Wind mitgerissen und ihre weißen Zähne strahlten mit dem milden Sonnenlicht um die Wette. Um ihre schmale Hüfte waren kräftige Männerhände gelegt und ein ebenso markantes Gesicht strahlte die junge Frau in seinen Armen liebevoll an.
Ein leises Seufzen entfuhr der alten Dame und eine einsame Träne rann ihre faltige Wange herunter, die sie so schnell es ihr möglich war wegwischte. So lange war es her und trotzdem noch so präsent.
Was wäre gewesen wenn...? Eine Frage die sie sich in den letzten 63 Jahren jeden Tag gestellt hatte. Eine Frage die auch in diesem Augenblick durch ihren Kopf schoss. Ein stummes Lächeln ruhte auf ihrem Gesicht als sie an ihre Zeit mit dem schönen Jack dachte. Alles war so klar und detailliert in ihrer Erinnerung hängen geblieben, als wäre es gestern gewesen. Was wäre nur gewesen wenn sie ihn nicht hätte gehen lassen?
Eine tiefe Sorgenfalte bildete sich auf ihrer Stirn. Sie atmete einmal tief durch um die schrecklichen Erinnerungen zu verdrängen und stützte sich geschickt hoch. Sie hatte ja ganz vergessen, dass sie Besuch hatte.
Als die alte Dame in der Küche ankam war immer noch alles so wie sie es vor einigen Minuten verlassen hatte. Auf dem Herd köchelte die Suppe die sie gemacht hatte vor sich hin und die Sonne schien durch das kleine Küchenfenster und strahlte dem jungen Mann, der auf ihrer alten Holzbank saß erbarmungslos auf den muskulösen Rücken. „Ich dachte schon Sie hätten einen Herzinfarkt bekommen", sagte der junge Mann ruhig und mit kühlem Unterton.
Die alte Dame ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen und ließ sich auf ihren Lieblingsstuhl, direkt gegenüber von ihm fallen. „Du siehst ihm so ähnlich, Kleiner. Es ist als säße mein Jack mir gegenüber." „Er ist nicht mehr dein Jack, Alice!", zischte er. Jedoch klang ihrer Name in seinem Mund wie ein verbotenes Wort. Wie etwas was nicht gesagt werden dürfte.
Alice strich sich eine graue, dünne Strähne hinters Ohr und blickte dem jungen Jack direkt ins Gesicht. „Wie heißt du eigentlich mein Junge?", erwiderte Alice ganz ruhig. Sie konnte ihn sehr gut verstehen. Er wird nichts Gutes über sie gehört haben. „Ich bin Jackson", murmelte er doch ließ es sich nicht nehmen die ersten vier Buchstaben besonders zu betonen. „Also Jackson, es ist sehr schön dich hier zu haben. Ich weiß deine Gründe für den überraschenden Besuch zwar nicht, aber ich freue mich sehr dich kennenzulernen. Mein... Enkelsohn." Alice Stimme wurde immer leiser und man konnte die Tränen in ihr hervor hören. „Sooft habe ich mich gefragt was gewesen wäre... wenn ich deinen Opa nicht hätte gehen lassen. Oder besser wenn ich mit ihm gegangen wäre. Ich... ich will dass du das hier hast. Das waren wir beide vor 63 Jahren. Damals war ich 17 und dein Großvater 19 Jahre alt." Sie war sich nicht sicher, ob Jackson ihre leise, brüchige Stimme überhaupt verstehen könnte. Zitternd übergab sie ihm das alte Foto, welches er lange und bedächtig betrachtete, bevor er anfing zu sprechen. „Du und Opa immer... immer dieses was wäre wenn? Ja was wäre gewesen wenn Opa damals kein Flüchtling gewesen wäre? Was wäre gewesen wenn dein Vater dich nicht hat verheiraten wollen? Was wäre gewesen wenn es meine Mutter niemals gegeben hätte? Und was wäre gewesen wenn du die beiden nicht hättest nach Amerika gehen lassen, ohne dich? Das weiß Keiner Alice, aber das ist auch unmöglich zu wissen. Wir alle können nichts für unsere Herkunft.
Keiner von uns hat sich ausgesucht, wann, wo oder von wem er geboren wird. Und auch niemand sucht sich die Farbe seiner Haut geschweige denn sein Heimatland aus. Das macht die Natur für uns. Aber wir können was dafür wie wir uns entscheiden unser Leben zu leben. Du hast entschieden dein kleines Mädchen mit ihrem Vater alleine aufwachsen zu lassen und du hast entschieden dafür einen Deutschen zu heiraten und das Imperium deines Vaters weiterzuführen. Das alles waren bewusste Entscheidungen. Vielleicht wolltest du es nicht, aber du hast sie letztendlich getroffen. Du hättest jeder Zeit etwas ändern können anstatt dich zu fragen was gewesen wäre wenn. Es ist nie zu spät etwas zu ändern. Es ist niemals zu spät, merk dir das."
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Menschen.
Random«Und am Ende sind wir alle nur noch eins: Menschen!» Eine Sammlung von Texten, die etwas bewirken sollen. © Die Urheberrechte liegen bei den unterschiedlichen Autoren.