Kurzgeschichte «Ein Meer aus Menschen» zum Thema Flüchtlinge, geschrieben von @onatriptonowhere 2015.
-Das Schiff schaukelt.
Ich presse meine schmutzigen Hände ängstlich auf den feuchten Boden und obwohl sich die warmen Körper der anderen an mich drücken, ist mir kalt. Gestern konnte ich die Sterne sehen, wenn ich nach oben geblickt habe – etwas Vertrautes inmitten all der Dunkelheit. Aber heute verhängen Wolken den Himmel und die Nacht ist finster, kalt und schmeckt auf meinen aufgeplatzten Lippen nach Einsamkeit.
Die Wellen schlagen gegen das schimmelnde Holz. Ich fröstele, kneife die Augen zusammen gegen den unbarmherzigen Wind, aber alles, was ich sehe, sind Schemen, Umrisse, gestaltlose Silhouetten in der Schwärze der Nacht.
Das Schiff schaukelt stärker, ein kleines Kind, das ich etwa drei Meter vor mir einordne, beginnt, zu weinen. Ich muss schlucken. Wie alt es wohl ist? Vier, vielleicht fünf. Zu jung. Noch unschuldig.
Es sagt etwas, aber ich kann nicht hören, was, denn in diesem Moment schlägt eine besonders hohe Welle gegen die Schiffswand, schwappt über und das Schiff schaukelt, kippt. Wasser steht in meinen Schuhen, dringt unter meine Kleidung. Jemand beginnt zu schreien, hoch und schrill und hilflos.
Und mit einem Mal wird aus all den Schatten ein Meer, ein wogendes, stürmendes, kreischendes Meer nur aus Menschen. In meinen Ohren hallen die Schreie der anderen tausendfach wieder, ein grausames Echo des Moments.
Um mich herum rauscht die See und das Holz des Schiffes knarrt, als wolle es brechen, und in dem Augenblick, in dem die dunklen Wolken am Himmel für eine Sekunde aufbrechen und den silbernen Mond offenbaren, höre ich das Bersten von Holz, all die Schreie, all das Weinen, und dann hebt sich der Schiffsbug, erst langsam, dann immer schneller, und als meine Hände sich nicht länger halten können und ich ins Wasser geschleudert werde, löse ich mich endlich aus meiner Starre und beginne, zu schreien.
Das schwarze Meer ist eisig kalt und schlägt erbarmungslos immer und immer wieder über mir zusammen, und ich schnappe verzweifelt nach Luft, rufe, schreie um Hilfe, aber niemand kann uns hören, niemand wird uns hören, und alles, an was ich denken kann, als ich endlich in die Tiefe gezogen werde, ist, dass ich noch so viel vorhatte.
Ich habe noch nicht gelebt.
Alles, was ich wollte, war leben. War mein Traum so töricht, so dumm, so unmöglich?
Alles wird schwarz.
Über mir schreien sie. Ein Meer aus Menschen.
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Menschen.
Random«Und am Ende sind wir alle nur noch eins: Menschen!» Eine Sammlung von Texten, die etwas bewirken sollen. © Die Urheberrechte liegen bei den unterschiedlichen Autoren.