22 ~ Diego

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Seit ein paar Stunden saß ich schon auf diesem verdammten Stuhl auf dem Flur der Intensivstation. Zum 100.000 Mal ging die Tür auf und ich stand auf und lief eilig auf den Arzt zu. „Haben Sie was Neues von Angie?", fragte ich aufgeregt. „Nein, leider nicht. Sie ist noch immer im OP. Es ist schlimmer als anfangs vermutet!", sagte der Arzt. „Was hat sie denn eigentlich?", fragte ich verzweifelt. „Wir gehen davon aus, dass sie, als sie abgehauen war, aus dem Fenster im zweiten Stock sprang. Sie wurde mit einer vermuteten Infektion wieder eingeliefert, aber es war nie eine Infektion! Sie hatte mehrere innere Blutungen, die wir nicht wahrnehmen konnten. Die Blutungen und einige Blutgerinnsel sind bis ins Herz vorgedrungen. Wir versuchen diese Gerinnsel und Blutungen zu stillen", erklärte mir der Arzt und ich merkte, wie mir schlecht wurde. „Danke", murmelte ich leise und ließ mich auf den Stuhl fallen. Der Arzt holte etwas und verschwand dann wieder im OP Saal. Seufzend blieb ich zurück. Warum musste es nur so weit kommen? Die Tür ging auf und Germán betrat den Flur. „Wo ist sie?", fragte er mich hektisch. 

„Langsam... Du kannst eh nichts ausrichten!", murmelte ich trocken. „Sie wird notoperiert! Seit drei Stunden! Das kann noch dauern!" Germán starrte mich fassungslos an. „Diego... Würdest du mit mir einen Kaffee trinken gehen? Ich brauche unbedingt einen!", sagte er dann plötzlich. Ich seufzte und stand dann trotzdem auf. „Klar, auch wenn mir Wodka gerade lieber wäre, aber ein Kaffee bringt es auch!", meinte ich lustlos. Schweigend verließen wir die Intensivstation. Der Arzt, der mich vorhin aufgehalten hatte, sah mich verwirrt an. „Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen! Ich komme wieder!", grinste ich frech und lief zur Treppe. Ich hörte den Arzt seufzen und mit einer gewissen Genugtuung ging ich mit Germán ins Erdgeschoss zur Cafeteria. „Es ist irgendwie echt unwirklich!", murmelte Germán unwirsch. „Ja, das ist es wirklich!", bestätigte ich ihn. „Meinst du, dass sie es schaffen wird?", fragte ich ihn traurig. Er seufzte. „Ich hoffe es! Sie ist eine Kämpferin! Sie wird bestimmt nicht so schnell aufgeben! Obwohl... Im Moment war ihr Leben nicht gerade das Beste, also denke ich eher, dass sie resignieren wird, statt zu kämpfen", seufzte Germán traurig. 

Ich sah kurz zu ihm. „Wie war Angie so?", fragte ich vorsichtig nach. Germán lächelte. „Sie war der lebensfrohste Menschen, den ich je kennen lernen durfte! Sie hat jeden mit ihrer guten Laune angesteckt. Du konntest noch so traurig sein und doch schafft sie es dich zum Lächeln zu bringen. Sie war etwas ungeschickt, aber immer da wenn Violetta sie brauchte. Wir haben uns in der Vergangenheit viel gestritten und nach Marias Tod wurde es auch noch schlimmer als besser... Es tut mir echt leid, was ich damals getan habe, aber man kann es leider nicht mehr ändern...", seufzte er. In der Cafeteria kaufte er zwei Kaffees und wir setzten uns an einen Tisch. „Ich habe sie zusammen mit Violetta kennengelernt als wir vor 1½ hierher nach Buenos Aires gezogen sind. Sie war einfach da mit ihrem wunderschönen Lächeln und ihrer glücklichen Art. Egal was passiert, diesen Moment werde ich nie vergessen! Auch werde ich nicht vergessen, wo Angie ihre Sachen gepackt hatte und einfach so nach Deutschland verschwand. Es war ein fürchterliches Gefühl, besonders als Violetta dann auch nach Deutschland verschwand um bei Angie zu sein. Aber es war eine wertvolle Lektion und deshalb habe ich Angst davor, was passiert, wenn Angie sterben sollte... 

Angie und Violetta kann man einfach nicht mehr trennen... Ich habe Angst, dass Violetta auch stirbt wenn Angie sterben sollte. Ich kann die beiden nicht mehr verlieren... Sie sind das einzige was ich noch habe!" Ich hörte interessiert zu. „Das tut mir echt leid... Ich hoffe so sehr, dass beide wieder aufwachen...", murmelte ich zurückhaltend. „Wollen wir wieder zurückgehen?", fragte Germán mich. Ich sah auf. „Wäre es nicht besser, wenn du wieder zu Violetta gehen würdest? Wenn es irgendwas Neues von Angie gibt, dann werde ich dich sofort informieren, ja?", schlug ich müde vor. Germán nickte. „Ja, das ist eine gute Idee. Ich wäre gerne bei meiner Tochter. Jetzt wo ich weiß, dass sie mich hören kann, will ich, dass sie weiß, dass ich bei ihr bin und darauf warte, dass sie wieder wach wird", sagte er und stand auf. Mit dem Kaffee in der Hand folgte ich ihm nach draußen auf den Gang. Germán ging Richtung Neurologie und ich Richtung Intensivstation. Ich grüßte frech den Arzt und setzte mich wieder auf meinen Stammplatz. Gedankenverloren trank ich meinen Kaffee und starrte auf die Tür. Als diese auf schwang, stellte ich den Kaffee zur Seite und stand auf. „Etwas Neues?", fragte ich angespannt. 

„Nein, wir sind immer noch dabei... Doch wir haben gerade ein anderes Problem!", sagte der Arzt und wollte weiter gehen. „Und was für ein Problem wäre das?", rief ich ihn zurück. Der Arzt drehte sich wütend zu mir um. „Sie wird zu wiederholten Male wiederbelebt!", fuhr er mich an. Ich erstarrte sofort. Mir war klar, dass sie bald nicht mehr aufwachen würde. Ich nickte nur schweigend und ließ mich wieder auf den Stuhl fallen. Tränen liefen über meine Wangen. Nervös zitternd wartete ich auf einen Arzt, der mir sagte, dass sie wieder lebt und auch wach ist. Ich verlor mich in meinen Gedanken, sodass ich den nächsten Arzt fast nicht bemerkt hätte. Sofort sprang ich auf. „Und? Hat sie es geschafft?", fragte ich zitternd. Der Arzt schüttelte nur den Kopf. Mir liefen tausend Tränen über die Wangen und ließ mich weinend auf den Stuhl zurückfallen. Warum muss mir so was immer passieren? Und warum ausgerechnet Angie? Was wird jetzt aus Violetta? Diese und mehr Fragen gingen mir durch den Kopf, doch auf keine der Fragen hatte ich eine Antwort. Ein weiterer Arzt kam und sagte: „Die OP ist gut verlaufen. Wir wissen nicht was passiert ist. Eigentlich ist ihr Körper lebensfähig. Sie war in der Aufwachphase gewesen. Sie können zu ihr, wenn sie wollen!" 

Ich nickte hektisch und ich wurde zu Angie gebracht. Die Geräte waren alle abgestellt und Angie lag zusammengesunken in dem Bett. Mein Herz wurde immer schwerer. Langsam ging ich auf sie zu. „Angie... Du kannst mich doch nicht einfach so alleine lassen...", schluchzte ich leise. Vorsichtig und sanft nahm ich ihre noch warme Hand. Ich beobachtete sie lange und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nie wieder in ihre strahlend blauen Augen sehen werde. Ich setzte mich neben sie ins Bett. Mir war es so egal, dass ich eigentlich neben einer Leiche saß und sie auch noch berührte. Es war halt immer noch Angie. Ich legte mich direkt neben sie. Ich wollte ein letztes Mal ihre Nähe spüren. Weinend blieb ich so liegen und drückte mich sanft an sie. Ich spürte wie langsam die Wärme aus ihrem Körper wich. Ich schluchzte immer weiter. Dann fiel mir ein, was ich Germán versprochen hatte. Weinend rappelte ich mich auf und ging zur Tür. Als ich meine Hand auf die Türklinke legte hörte ich ein leises Seufzen, kurz darauf folgte ein schwaches: „Diego?" Ich drehte mich um und sah in Angies blaue Augen. Ich starrte sie überrascht an. „Angie! Was... Aber wie? Du bist doch eigentlich tot!", stammelte ich. Angie lächelte leicht. 

„Ich war es... Aber meine Zeit ist noch nicht gekommen!", hauchte sie leise. Ich ging wieder zu ihr. „Ich habe dich gesehen! Ich habe deine Reaktion gesehen...", murmelte sie schwach. „Es tut mir leid. Ich hätte dir von Anfang an die Wahrheit sagen sollen! Dann wäre es nie soweit gekommen..." Ihre Stimme versagte etwas. Ich setzte mich wieder zu ihr aufs Bett. Sie lächelte mich müde an. Noch immer liefen mir Tränen über die Wangen und ich müsste grinsen wie ein blöder, aber das war mir egal. Ich rutschte nah an sie heran und legte mich dann neben sie. Sie kuschelte sich an mich und schloss die Augen. Sanft legte ich meinen Arm um sie und strich ihr vorsichtig durch die Haare. Ich spürte wie sie langsam einschlief. Nach einigen Minuten kam ein Arzt und wollte mich bitten zu gehen. Doch ich schüttelte den Kopf. Ich musste lachen bei dem Blick des Arztes, als Angie den Kopf hob und ganz lieb nachfragte, ob ich nicht bleiben dürfte. Der Arzt nickte nur und verschwand schweigend durch die Tür. Angie schien verwirrt. „Er hat mich angesehen, als hätte er ein Geist gesehen!", murmelte sie. Ich lachte. „Klar, der ging doch noch davon aus, dass du tot wärst!", lachte ich. Sie grinste verlegen und kuschelte sich wieder an mich. Ich drückte sie sanft an mich und küsste sie aufs Haar. Ich war glücklich und erleichtert zugleich. Nun würde ich nicht mehr von ihrer Seite weichen!


Tanzen ist das was mich ausmacht ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt