Ich war wieder dort, wo ich nicht sein wollte... Mit meiner Laune auf dem Gefrierpunkt und im Krankenhaus. Es war drei Uhr nachts und ich lag hellwach auf meinem Bett. Diego war schon lange nicht mehr hier, da die Besuchszeiten vorbei waren. Nachdenklich nahm ich wieder Germáns Tagebuch zur Hand. Seufzend strich ich über den Einband, dann schlug ich das Buch auf. Ich starrte auf Germáns Handschrift und fing an zu lesen.
Ich könnte diesen Lehrer umbringen! Wie kann er es wagen meine Angie mit einem Stein niederzuschlagen? Sie hat ihm gar nichts getan! Sie hat doch nur ihre Nichte, meine Tochter, verteidigt! Zu allem Überfluss haben Angie und ich uns auch noch gestritten und sie will jetzt nach Deutschland ziehen... Das kann sie mir doch nicht einfach so antun! Und was ist mit Maria? Wie soll ich ihr bitte erklären, dass ihre kleine Schwester nach Deutschland ausgewandert ist?
Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Hatte er wirklich so gedacht? Denkt er immer noch so? Ich blätterte ein bisschen weiter und dann wurde es interessant. Ich fing an leicht zu zittern und las angespannt den Eintrag.
Drei Wochen... Drei Wochen lang sitze ich Tag und Nacht schon neben Angies Bett und bete, hoffe, dass sie wieder aufwacht. Ich esse nichts mehr, da ich einfach kein Hungergefühl bekomme. Ich schlafe nicht mehr, da ich keine Müdigkeit empfinde. Ich fühle eine Leere in mir, die ich nicht beschreiben kann. Die zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben liegen auf der Intensivstation. Bei beidem ist es unklar ob sie je wieder aufwachen... Ich habe so Angst, dass sie sterben... Was ist wenn sie nie wieder aufwachen? Ich kann nicht ohne sie leben... Wie zerbrechlich Angie aussieht. Sie ist schneeweiß und wenn das EKG nicht die Herzschläge messen würde... Ich würde dann sagen, das Angie nicht mehr leben würde. Sie bewegt sich kein bisschen, sie verzieht keine Miene. Sie liegt einfach so da, die Augen geschlossen, zwischen all den Geräten, die sie am Leben halten. Ihr wunderbarer Duft nach Frühling wird von dem beißenden Geruch von Desinfektionsmittel überlagert. Ich vermisse ihre strahlenden Augen und ihr wunderschönes Lächeln. Ihre schönen Haare, die sonst so schön glänzen, liegen jetzt ganz glanzlos neben ihr. Immer wenn ich von meiner Trauer erfasst werde, streiche ich ihr durch die Haare. Es kann sein das ich mir das einbilde, aber für mich scheint es so, als würde Angie dann immer leicht Lächeln. Es tut weh nicht mit ihr reden zu können. Ich möchte ihr wunderschönes, helles und fröhliches Lachen hören. Ich möchte sie und Violetta beobachten, wie sie am Klavier sitzen, spielen und gemeinsam singen oder wie sie gemeinsam über Bücher reden. Ich möchte ihnen zu sehen, wie sie gemeinsam bei Líssá reiten und Violetta gemeinsam mit Angie helfen Espinosa aufzuziehen und einzureiten. Ich würde so gerne wissen ob Angie mich hören würde, wenn ich mit ihr rede... Sie fehlt mir sehr was soll ich denn ohne sie machen?
Ich schlug das Buch zu. Ich habe während ich im Koma lag gar nichts mitbekommen... Er war die ganze Zeit bei mir... und dann habe ich mich so blöd verhalten. Ich legte das Buch weg und kuschelte mich sanft in das Kissen. Ich sah nach draußen und war enttäuscht keine Sterne zu sehen. Ich seufzte. Auf einmal ging langsam die Tür auf. Aus Reflex schloss ich die Augen. Die Tür schloss sich und es kam jemand zu meinem Bett. Die Person setzte sich leise neben mein Bett und ich spürte den Blick auf meinem Rücken. Kurz darauf spürte ich eine Berührung an meiner Schulter. Ich zuckte erschrocken zusammen.
„Bist du wach?", hörte ich eine leise, tiefe Stimme. Ich seufzte leise. „Was willst du hier? Woher weißt du das ich hier bin?", fragte ich leise ohne mich zu ihm um zu drehen. „Du meintest du wärst nicht suizidgefährdet und dann verschwindest du einfach so... Ich kann dir sagen, das mich dein Brief nicht wirklich beruhigt hat!", murmelte er leise. „Du hast gar keine Ahnung, Germán! Misch dich nicht in mein Leben ein! Ich komme gut zurecht!", maulte ich ihn leise an. Ich merkte wie er den Griff um meine Schulter verstärkte und mich dann zu sich drehte. Er sah total müde aus, so als hätte er lange nicht mehr geschlafen. Zum ersten Mal seit ich aus dem Koma wach geworden bin, sah Germán richtig...
Oder lag es nur daran, weil ich in seinem Tagebuch gelesen habe. Seine Augen waren etwas glasig und Tränen sammelten sich in ihnen. Er wirkte sehr mager, jedenfalls hing sein T-shirt so merkwürdig an ihm runter. Generell hatte er ein leicht ungepflegtes Aussehen, was mich schon sehr erschreckte. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und fuhr ihm sanft durch die struppigen Haare. Ich seufzte traurig. Er versuchte mir die ganze Zeit in die Augen zu sehen. Langsam zog ich meine Hand zurück und starrte demonstrativ an die Zimmerdecke. „Es wäre besser wenn du jetzt gehen würdest! Es ist mitten in der Nacht!", sagte ich direkt. Er stand vorsichtig auf und ging langsam zur Tür. Sein Blick lag lange auf mir. Ich folgte ihm mit meinem Blick.
„Schlaf gut, Angie und träum schön!", murmelte er leise und verließ ohne auf eine Antwort zu warten den Raum. Seufzend drehte ich mich wieder zum Fenster und sah nach draußen. Warum verhalte ich mich so wie ich mich verhalte? Ich spürte wie mein Herz langsam zerbrach. Auf einmal wurde ich wieder kurzatmig und ich spürte wie mein Herz anfing zu rasen. Meine Muskeln spannten sich gegen den aufkommenden Schmerz an. Ich fing an zu schwitzen, aber ich schwitzte kalten schweiß. Das EKG piepte bedenklich und ich starrte zitternd darauf. Ich streckte meine Hand nach dem Schwesternknopf aus, doch ich verfehlte ihn oft und schmiss ihn anschließend zu Boden.
Ich konnte keine Hilfe rufen. Der Raum fing an sich zu drehen und mir wurde langsam schwarz vor Augen und ich hörte nur noch das durchdringende Piepen des EKGs. Urplötzlich war das Herzrasen weg und mein Atem stockte. Danach konnte ich nichts mehr wahr nehmen...
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Tanzen ist das was mich ausmacht ✔
FanfictionFortsetzung von 'Singen ist das was mich ausmacht'. Nach Violettas Geburtstag hat Maria einen tödlichen Unfall... Violetta ist am Boden zerstört. Angie versucht so gut es geht die Familie auf andere Gedanken zu bringen, das sie ihre eigenen Gefühle...