Noel Snow

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Wenn man wie ich ist, hat man viele Fragen. Eine davon, die ich mir schon stelle, seit ich denken kann, ist diese: Existieren Gut und Böse wirklich wie schwarz auf weiß auf dieser Welt? Das Böse, das ungehindert in der Dunkelheit herrscht, Schrecken, Angst, Krankheit und Tod bringt und die sich Liebenden unwiderruflich trennt - und das Gute, das stetig und ständig gegen das Böse kämpft, Liebende vereint, Kranke heilt, Kriege beendet? Es ist die Frage, die mich seit geraumer Zeit beschäftigt. Denn mein Leben hängt davon ab.

"Liebling, hast du alles?", fragte meine Mutter mit ernster Stimme und einem noch ernsteren Blick.
"Das habe ich dir bereits fünfmal gesagt. Ja", antwortete ich, nebenbei verdrehte ich die Augen.
"Na schön. Vergiss nicht, dich regelmäßig zu melden. Vor allem, wenn es passiert. Ich möchte sie kennenlernen."

Und da ist sie, meine unverbesserliche, ewig positive, optimistische Mutter. Obwohl Mutter noch nicht mal der richtige Ausdruck ist. Aurora und Carl Snow sind die Personen, die mich aufgenommen haben, bei denen ich seit elf Jahren lebe. Meine Eltern - nun ja, um genau zu sein, habe ich keine Eltern, der Himmel hat mich geschaffen, aus Wolken, Wind und Sonnenlicht. Seit einem Heiligabend im Jahr 1926 weile ich auf der Erde, mich ewig versteckend, ewig fürchtend.

Aurora, meine Mutter, wie ich sie der Einfachkeit halber immer nenne, geht davon aus, dass meine Person meine Partnerin wird - so, wie es bei ihr auch war. Jegliche Ängste, die ich habe, es könnte ein Fiesling sein, ein Tyrann, ein Mörder, nimmt sie nicht ernst und winkt ab. Einerseits bin ich ihr dankbar, schließlich kann ich an der Wahl der Person nichts ändern - egal, ob ich mir darüber Gedanken mache oder nicht, aber andererseits glaube ich, ich täte gut daran, mit jemandem darüber zu sprechen.

Meine Kindheit unterschied sich von der anderer Kinder - denn da kommen wir schon zum springenden Punkt. Ich kenne keine anderen Kinder. Und ich hatte auch nicht vor, andere Menschen kennenzulernen. Bis zu dem Tag, an dem der Brief kam. Ich war drauf und dran, eine Nachricht an Dippet zu schreiben, dass ich sicher nicht auf seine Schule für Hexerei und Zauberei gehen würde, dass lieber jemand anders meinen Platz haben könne, doch leider hatte meine Mutter mich dabei erwischt und so lange auf mich eingeredet, bis ich zähneknirschend versprechen musste, es wenigstens zu versuchen. "Überleg doch mal, Schatz", hatte sie gesagt, "wie viele Menschen gibt es in England, und wie viele besuchen diese Schule? Warum sollte dein Mensch unbedingt da dabei sein; und überhaupt, warum solltest du diesen Menschen nicht mögen?"

Eine Diskussion mit ihr wäre zwecklos gewesen. Demonstrativ zerriss ich also den Brief und jetzt bin ich hier. Wie es mir gelungen ist, in die Winkelgasse zu gehen, einen Zauberstab zu kaufen, meinen Umhang schneidern zu lassen und schließlich auch noch eine eigene Eule namens Sherlock Holmes von meiner Mutter geschenkt zu bekommen, ohne eine Panikattacke zu erleiden, kommt mir immer noch wie eine echte Meisterleistung vor. Aber ich stand hier, auf einem magischen Gleis, auf dem umherrennende Kinder schrien, Eltern vergessene Tiere und Kleidung zum Zug brachten und die Luft erfüllt war vom weißen Rauch der roten Dampflok.

"Es geht los", sagte ich zu mir selbst. Sherlock in dem Käfig auf meinem Koffer schuhuhte leise und legte den Kopf schief. Den Blick hielt ich streng gesenkt, so, wie es meine Mutter mir empfohlen hatte. Ich fiel ohnehin schon genug auf.
"Eine gute Fahrt, Schatz", sagte Aurora und küsste mich auf den Kopf. Es ist seltsam, wie einem jemand, mit dem man genau genommen nichts zu tun hat, so vertraut und wichtig wird wie eine Mutter. Das heißt, so genau weiß ich gar nicht, was man für eine Mutter emfpindet, aber ich denke, dass Aurora ihren Job gut gemacht hat.

Und damit öffneten sich die Türen des Hogwarts-Expresses vor mir, öffneten sich wie die Türen in ein neues Leben. Zögernd stieg ich die Stufen hinauf, bekam den Koffer von Carl zu mir nach oben gereicht und zerrte ihn mit aller Kraft in den Wagon. Keuchend sah ich mich um. Ich stand in einem Gang, von dem auf einer Seite unzählige Abteile abgingen; bis zum Ende des Zuges, das ich nicht ausmachen konnte. Einzelplätze gab es nicht, soweit ich das ausmachen konnte -  und das machte mich verdammt nervös.

Kind Des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt