Weihnachten & ein zweites Geheimnis

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Der letzte Schultag vor den Ferien brach an. Beim Frühstück flogen die Eulen über unseren Köpfen in die Große Halle und brachten vereinzelte Schneeflocken auf die Tische. Sherlock, den ich vor einigen Tagen mit einem Brief für meine Eltern losgeschickt hatte, in dem ich ihnen mitteilte, wann ich wieder in London ankommen würde, setzte sich vertraut neben mich und legte seinen Kopf schief. An seinem Bein befand sich eine kleine Rolle und stolz streckte er das Bein aus, damit ich ihm den Brief abnehmen konnte. Wie erwartet fand ich die geradlinige, schlanke Handschrift meiner Mutter darin.

Hallo Noel,
Carl und ich werden dich abholen. Wir freuen uns auf dich, mein Schatz.
Aurora

P.S.: Vergiss deine Salbe für die Narben nicht. Ich hoffe, du hast sie dir jeden Abend auftragen lassen.

Oh, verdammt. Daran hatte ich mit keiner Silbe mehr gedacht, sobald diese Chaoten, die ich nun meine Freunde nannte, mich in meinem einsamen Zugabteil geweckt hatten. Doch bis jetzt ging es mir gut und die feinen Striche auf meinem Rücken bereiteten mir keine Probleme, weshalb ich beschloss, meinen Eltern nichts davon zu sagen.

Während Anthony und Jacques in jeder freien Sekunde Muggel-Weihnachtslieder anstimmten und Edward sie mit erfundenen zweiten Stimmen begleitete (was schrecklich klang - aber ich sagte es nie, zu groß war meine Angst, sie würden nicht mehr meine Freunde sein wollen), wurde Ryan mit jedem Tag, den es auf Weihnachten zuging, stiller und in sich gekehrter. Auf mich wirkte es, als wolle er nicht einmal seine Sachen packen, um nach Hause fahren zu können. Ich dachte daran, wie er am Anfang immer nach draußen gegangen war, um sich zum Schlafen umzuziehen. Diese Eigenschaft hatte er nach einigen Wochen abgelegt und ich drehte mich mit dem Rücken zum Bettpfosten, damit niemand freie Sicht auf meinen Rücken hatte. Und obwohl Ryan nun nichts mehr vor uns zu verbergen schien, wurde ich mein ungutes Gefühl nicht los.

Nach dem Abendessen am letzten Freitag saßen wir zu fünft in unserem Schlafsaal und hingen unseren Gedanken nach, als ich beschloss, es sei nun genug mit der Geheimniskrämerei.

"Ryan", setzte ich an und augenblicklich hob dieser den Blick von dem Foto in seinen Händen. Seine Augen waren feucht. Plötzlich fand ich, dass ich viel zu forsch geklungen hatte. "Ist alles in Ordnung?" Ich legte alle Wärme und Mitgefühl in meine Stimme, die ich finden konnte.

Ryan nickte stumm, aber ich wusste, dass er log.

"Du kannst uns doch sagen, wenn dich etwas beschäftigt", half Jacques mir aus und zeigte sein beruhigendstes Lächeln. Ryan hob erneut den Blick und sah uns nacheinander immer wieder in die Augen, so als könne der Ausdruck in seinen Augen uns sagen, was er empfand. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis endlich wieder eine Stimme durch die Luft des Zimmers flog. Leise und so schwach, dass sie die Luft nicht in Bewegung brachte, aber dennnoch so laut, dass sie in unsere Ohren drang. Es war ein einfacher Satz, der trotzdem unglaublich viel in uns auslöste und seine Kraft umso stärker entfaltete, je länger wir ihn auf uns einwirken ließen. Das war der erste Moment, in dem ich verstand, wieso ich hier war.

"Ich habe Angst zu Hause."

Und dann, vielleicht, weil niemand lachte, oder weil wir ihn alle anstarrten, weil wir nicht glauben konnte, was er soeben gesagt hatte, fuhr er fort.

"Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben. Mein Vater hat mich noch nie sonderlich gemocht, weil ich... zaubern kann... und er nicht. Das ist das erste Weihnachten ohne sie." Seine Stimme verlor sich und wurde zu einem dünnen Flüstern, erstickt von seinen Tränen. Ohne wirklich darüber nachzudenken, hatten wir uns alle auf sein Bett gesetzt. Tony, der sonst eher zu Witzen aufgelegt war und mir ehrlich gesagt nie reif genug erschien, um über ernste Themen zu sprechen, strich Ryan besorgt über den Rücken.

Kind Des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt