Litzmannstadt II

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Erschossen. Tote, reglose Körper lagen vor mir, und ich, obwohl ich eine Kraft hatte, die so viel mächtiger war als ihre lächerlichen Pistolen, ich stand regungslos daneben, verdammt zur Untätigkeit, musste zusehen, wie das Leben aus ihnen wich, nach und nach, bis am Ende nichts mehr übrig bleiben würde außer einem großen, leblosen Haufen.

Mir war zum Heulen. Nicht einmal unbedingt zum Heulen, weil ich fand, dass das meiner wahren Verzweiflung nicht einmal annähernd gerecht werden würde. Ich würde mir am liebsten die Pistole nehmen, sie mir selbst an den Kopf halten und abdrücken.

Ich spürte, wie, als ob er sich selbstständig gemacht hatte, mein Arm nach der Hand des Beamten griff, um ihm die Waffe aus der Hand zu reißen, als sich eine viel kleinere, wärmere Hand als meine um meine Finger schloss und sie beruhigend streichelte.

„Noel! Noel, wach auf! Du träumst!" Mit dem bekannten Klang von Lioras Stimme schlug ich endlich wieder die Augen auf. Sie hatte sich über mich gebeugt, ihre Stirn lag in feinen Fältchen, so wie immer, wenn sie sich um irgendetwas Sorgen machte.

„Es tut mir Leid", murmelte ich verschlafen und drehte mich auf die Seite, um einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen, die neben dem Bett stand.

„Ich weiß, dass du aufgeregt bist. Ich bin es auch. Aber es wird sicher alles gutgehen. Ihr beiden habt so lange dafür gearbeitet, da kann ich mir kaum vorstellen, dass ihr auf eine Situation nicht vorbereitet seid!"

Mit „ihr beiden" meinte sie Tom und mich. Tom und ich, wie verrückt sich das anhörte, selbst dann, wenn ich diesen Gedanken nur in meinem Kopf formulierte und ihn nicht einmal über die Lippen brachte. Tom hatte mich nach unserem ersten Mittagessen beinahe jeden Tag abgeholt und seine Mittagspause mit mir verbracht. Natürlich war es seltsam, aber das war immer noch besser, als trockenen Toast im Hinterzimmer des Ladens zu essen – allein. Mr Ollivander hatte jede Menge zu erledigen und eine freie Mittagspause half ihm anscheinend schon viel dabei, seine ganzen Erledigungen ausführen zu können.

Unser Plan stand – stand fest, siegessicher beinahe. Tom sah dem ganzen Unternehmen fast schon erfreut, so kam es mir zumindest vor, entgegen. Er war nahezu euphorisch, wie er sich durch die Muggelbücher wälzte, nach Informationen suchte oder mit mir Wege erdachte, wie wir das Ganze irgendwie so vertuschen konnten, dass den Muggeln nichts auffiel.

Ich muss auch zu meinem eigenen Bedauern sagen, dass ich es ohne Tom wohl nicht geschafft hätte; zumindest hätte ich nie einen so sicheren Plan erschaffen können, denn ich war schlicht und ergreifend nicht so tief in die dunkle Magie verwickelt. Tom kannte Zaubersprüche und Möglichkeiten, von denen ich mir noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte! So dunkel und böse diese Magie auch war, sie sprengte Regeln und Gesetze, die uns aufgelegt worden waren – und dass das in manchen Momenten hilfreich sein konnte, hatte ich ja am eigenen Leib erfahren.

Wir hatten jeden Tag, an dem wir uns zum Mittag getroffen hatten, wie verrückt an unserem Plan gearbeitet (und ich hatte deshalb vielleicht das eine oder andere Mal meine Pause überzogen). Letzte Woche, die letzte Woche, die ich diesen Sommer bei Ollivanders arbeiten würde, war Tom noch einmal nach Litzmannstadt appariert, um sich die Lage vor Ort anzusehen („Im Sommer ist es noch viel schlimmer dort, es stinkt wie die Hölle." – „Noch schlimmer als im Winter?" – „Das war überhaupt kein Vergleich.").

Und heute war der große Tag. Heute waren wir dem Ziel, auf das wir seit einem halben Jahr hinarbeiteten, so unglaublich nahe. Man möge mir also verzeihen, dass ich ein bisschen neben mir stand, schlecht geträumt hatte und überhaupt nicht so ganz ich selbst war.

Ich wusste nicht, wie oft wir alles durchgegangen waren. Eigentlich war alles minutiös geplant; von unserer Ankunft über unsere Enthüllung und die Rolle, die Liora dabei spielen musste bis hin zu der „Evakuierung" der gesamten Siedlung und unserer anschließenden Flucht.

Kind Des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt