Litzmannstadt

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Ich brauchte einige Momente, um mich zu sammeln und meine Körperteile zu ordnen, aber dann drängte sich Toms Stimme in meine Ohren.

„Desillusionieren, verdammt! Hörst du nicht zu?" Er gab mir einen leichten Schlag auf den Hinterkopf, was mich glücklicherweise sofort in die Realität zurückholte. Auf meinem Kopf breitete sich das altbekannte Gefühl eines ausgekippten Farbeimers aus. Schließlich führte ich noch den vereinbarten Zauber aus, der es uns erlaubte, uns gegenseitig zu sehen. Tom schaute sich gerade angewidert in der Umgebung um und nun fand ich auch endlich die Orientierung vollständig wieder.

Was ich sah, erinnerte mich an die Bilder, die mir Anthony in einem seiner Muggel-Geschichtsbüchern gezeigt hatte, weil sie ihn so sehr verwirrt hatten. „Kommt mir das nur so vor oder haben die da einen Schritt um 5 Jahrhunderte zurück gemacht?", hatte er gesagt und mir so lange das Buch vor die Nase gehalten, bis ich mich endlich ergeben und es gelesen hatte. Die Seiten, die er so verwirrend fand, behandelten die französische Renaissance. Waschen war verpönt, stattdessen sprühte man sich lieber so viel Parfum auf die gepuderten Perücken, dass man kaum noch Luft bekam.

Nun, nach Parfum roch es an diesem Platz sicher nicht. Stattdessen stank es nach – ja, nach so ziemlich allem, was ich ekelerregend fand. Es roch nach Schweiß, ohne, dass ich Menschen sah. Es roch nach vergammeltem Essen, menschlichen Exkrementen und einem süßlichen Geruch, den ich nicht zuordnen konnte. Der Boden, auf dem wir standen, hatte nichts mit den süßen, gepflasterten Gassen in Hogsmead gemein, denn es waren Pflastersteine, die abgetreten, hässlich und an einigen Stellen sogar löchrig waren, der Dreck klaffte in den Ritzen und ließ alles hier noch schäbiger wirken, als es der Geruch allein schon tat. Die Häuser um uns herum waren hässliche Bauten, die entweder offensichtlich in großer Eile errichtet oder mit wenig Sorgfalt wieder zusammengeflickt worden waren, nachdem der Putz an diversen Stellen abgeblättert war.

Das Bild, das sich uns bot, sah so trostlos und hässlich aus, dass es nicht einmal einen Unterschied gemacht hätte, ob ich es in schwarz-weiß oder in Farbe betrachtete. Die Sonne, selbst falls sie irgendwo weit oben schien, kam einfach nicht durch die trostlosen Wolken, die am ganzen Himmel hingen wie schadenfrohe Menschen, die sich um keinen Preis das Leid anderer Menschen entgehen lassen wollten.

Eine Frau scheuchte ihre zwei Kinder vor sich her ins Haus und verriegelte mehrmals die Tür, nachdem sie ins Hausinnere gelangt war. Die Kinder trugen Kleidung, die ihnen mehrere Größen zu groß war und daher in losen Falten um ihre kleinen, ausgehungert wirkenden Körper fiel, die Kleidung der Mutter strotzte nur so vor Dreck.

„S-Sind wir hier richtig?", flüsterte Tom, nachdem er sich durch mehrmaliges Umsehen vergewissert hatte, dass uns niemand hören konnte.

In der Tat schienen wir allein auf den Straßen von diesem gewissen Litzmannstadt zu sein. Es waren weit und breit keine Kinder zu sehen, die auf der Straße spielten, keine älteren Männer, die Pfeife rauchend und Zeitung lesend auf der Bank saßend und wehmütig die Leichtigkeit der Kinder beim Ballspiel betrachtete. Wir schienen in der ganzen Stadt die einzigen zu sein, die überhaupt noch auf die Straße wollten, aber da man uns als Außenstehender ebenfalls nicht sah, musste es hier wie ausgestorben wirken.

„I-ich weiß nicht", antwortete ich wahrheitsgemäß und begab mich auf die Suche nach einem Schild oder irgendetwas anderem, das uns unseren Aufenthaltsort bestätigte.

„Aber ich hab gute Nachrichten." Mit Leichtigkeit joggte er neben mich und schlenderte dann mit mir durch die verlassenen, dreckigen Straßen, auf der Suche nach irgendeinem Zeichen.

„Und die wäre?", fragte ich.

„Der Test war positiv. Theoretisch dürfte es keine Schwierigkeiten geben."

Kind Des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt