Wiedersehen [Jacques Patrice St. Courfleur]

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Schlechtes Gewissen nagte an ihm wie eine halb verhungerte Maus an einem Stück Speck nagen würde, als er das Haus zum ersten Mal seit Jahren verließ. Granaten und der Hass der Menschheit hatten die einst zauberhafte Landschaft rings um sein Elternhaus unkenntlich gemacht. Nicht mehr aufzufinden waren die sanften Hügel, über die er und seine Brüder sich scherzhaft gejagt hatten, die duftenden Lavendelfelder nichts weiter als eine blassviolette Erinnerung.

Seine Heimat lag in Trümmern, und obwohl der Krieg vorüber war, hatte es niemand für nötig gehalten, dessen Überreste zu beseitigen und sich darum zu kümmern, dass dieser Fleck Erde wieder würdevoll und schön aussah. Es war ein Schandmal, oder ein Mahnmal, den Hass nicht so tief in das Innerste des menschlichen Herzens vordringen zu lassen.

Doch wenn er die Augen schloss, hörte er in der Ferne das Meer rauschen, hörte das Rauschen des Vogelflugs über ihm im Wind, hörte die Bäume, die sich im Luftzug bewegten, hörte, wie ihre Äste knarrten, und in seinen Gedanken mischte sich dann die Erinnerung an Kinderlachen - sein Lachen, das Lachen seiner Brüder. Er wünschte sich, er hätte sie noch ein einziges Mal lachen hören können nach der verhängnisvollen Testamentsverkündung.

Er wünschte sich, er hätte zu irgendeinem von ihnen wenigstens noch Kontakt. Er wusste nichts. Wusste weder, wo sie sich aufhielten, was sie taten, ob sie einen Beruf hatten - er wusste nicht einmal, ob sie den Krieg so unbeschadet überstanden hatten wie ihr Elternhaus, er wusste nicht einmal, ob sie noch lebten.

Aber er hatte ein Ziel. Und einen Plan. Den Brief an seinen ältesten Bruder, Mathis Théo, hatte er heute Morgen einer Eule ans Bein gebunden. Er schenkte ihm das Haus. Seine Mutter war tot, und Jacques hielt nichts mehr in Frankreich, schon gar nicht seine persönliche, irdisch gewordene Hölle der letzten Jahre. Er hatte noch einen anderen Brief, aber der hing nicht am Bein einer Eule, sondern steckte tief in den Taschen seines Umhangs. Wie zur Bestätigung strichen seine Finger über das Pergament, beinahe glaubte er, die Tintenstriche fühlen zu können.

Von der ersten Sekunde an hatte er gewusst, dass er die stark nach rechts geneigte, geschwungene Handschrift kannte, es hatte ihm nur nicht einfallen wollen, woher. Viel zu lange hatte er keine Briefe mehr erhalten, die an ihn adressiert waren. Seine Freunde, oder besser gesagt die Personen, die er früher seine Freunde nannte, hatten sich seit Jahren nicht bei ihm gemeldet. Er konnte sie verstehen. Er war ein Feigling. Der Absender des ominösen Briefes schien das allerdings ganz und gar nicht so zu sehen.

... Aus diesem Grund würde ich mich geehrt fühlen, Dich in unseren Reihen aufnehmen zu können. Wir können jeden tapferen jungen Zauberer gebrauchen.

Mit den besten Grüßen
A. P. W. B. Dumbledore
, hatte dort gestanden und Jacques musste den Brief zweimal lesen, bis er ihn vollkommen verstand. Professor Dumbledore erinnerte sich an ihn, aus irgendeinem Grund hatte er ihn nicht vergessen, und Jacques damit wieder einen Sinn im Leben gegeben.

Er wusste, was zu tun war. Das Haus war leer, sodass Mathis Théo dort jederzeit einziehen konnte, wenn er seinen Brief erhalten hatte. Jacques' ganzes Hab und Gut war in einem magisch vergrößerten Koffer untergebracht. Dumbledore hatte ihm eine Adresse in Hogsmeade genannt, an der er sich melden konnte. Dort würde er ein Zimmer vorfinden, er würde bewirtet werden, und falls ein Treffen anstand, würde er als einer der Ersten informiert.

Jacques war aufgeregt. Seine Finger kribbelten und er verspürte eine Euphorie, die ihm schon lange verwehrt gewesen war. Andächtig schritt er bis zur Appariergrenze, drehte sich noch kurz um und hob die Hand, als würde er einen alten Freund verabschieden, dann war er verschwunden.

Als er die gedrungenen, bunten Häuschen von Hogsmeade vor sich auftauchen sah, musste er sich zusammenreißen, um die Tränen zurückzuhalten. Er war zu Hause. Nach Jahren in Gefangenschaft, die vertuscht wurde, war er zu Hause. Er konnte sich frei durch die Gassen bewegen, er konnte vor die Tür treten, wenn ihm danach war, er musste nachts keine Bombendetonationen ertragen. Hier hatte er seine Freunde gefunden, hier hatte er Zoe kennengelernt. Melancholisch schaute er zum Schloss auf dem Hügel, als könne er so in der Zeit zurückreisen.

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