Freundschaft?

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Ich stand mindestens für fünf Minuten vollkommen geschockt im Türrahmen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Unterlippe zitterte mit jedem Atemzug, den ich machte. Stumme Tränen strömten meine Wangen hinab. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Vor nicht einmal einem Jahr hatte ich fast geglaubt, wir könnten ein Paar werden und jetzt war sie einfach nicht mehr da - tot. Ermordet.

Eine kalte, schwitzige Hand legte sich auf meine Schulter und obwohl die Stelle sich unangenehm anfühlte, fand ich nicht die Überwindung, die Hand abzuweisen.

"Komm", sagte Toms schnarrende Stimme in seinem Nacken und zog mit sanftem Druck an meiner Haut. Zu geschockt, um etwas zu antworten oder ihm gar zu widersprechen, ließ ich mich von Tom aus dem Raum bugsieren. Im Gemeinschaftsraum drückte er mich auf eins der dunkelgrünen Ledersofas, das beim Hinsetzen quietschte.

"Brauchst du was?" Tom sah mich so an, als würde er es nicht akzeptieren, wenn ich verneinte, aber ich tat es trotzdem.

"Was habt ihr jetzt vor?" Er erstarrte. "Habt ihr noch nicht darüber nachgedacht?" Tom schüttelte den Kopf.

"Dafür hatten wir noch nicht die Zeit. Nach allem, was vorgefallen ist, dachte ich, es wäre das Wichtigste, dir zuerst Bescheid zu sagen. Und ehrlich gesagt... ich hatte gehofft, dass du vielleicht wüsstest, was - was jetzt zu tun ist."

Überfordert stierte ich zurück. Hatte ich überhaupt jemals etwas gewusst?

"Ich hab keine Ahnung", murmelte ich. "Kein Plan."

"Ich gehe Avery holen", beschloss Tom dann. "Uns fällt schon was ein."

Ich glaubte ehrlich gesagt nicht, dass Avery im Stande sein würde, irgendeinen vernünftigen Gedanken zu denken, geschweige denn überhaupt erst einmal anzufangen. Mich verwunderte, dass er so aufgewühlt gewesen war. Ich hatte es noch nie erlebt, dass der Tod eines Menschen einen anderen so mitnahm - leider musste ich mir auch eingestehen, dass ich auch noch nie einen Mörder kennengelernt hatte.

Kurze Zeit später schob Tom einen immer noch ziemlich stark von Weinkrämpfen geschüttelten Avery durch den Gang der Schlafsäle in den Gemeinschaftsraum. Er ließ sich neben mir auf dem Sofa nieder und brachte es nicht einmal fertig, mir ins Gesicht zu sehen.

"Vielleicht wäre es eine gute Idee, zu sagen, wir hätten sie einfach vor unserem Gemeinschaftsraum gefunden", schlug Tom vor.

"Nein, nein", schluchzte Avery. "Ich - ich werde - ich werde dazu stehen." Er wischte sich mit dem Finger die Nasenspitze ab und in diesem Moment verlor ich jegliche Angst vor dem Slytherin, der neben mir auf dem Sofa kauerte wie ein Häufchen Elend. Er tat mir leid. Und ich hatte das plötzliche Gefühl, dass er Annabelle vielleicht wirklich gemocht hatte - und dass sie vielleicht nur mit ihm zusammen gewesen war, um mich eifersüchtig zu machen. Ich rutschte ein Stück näher an Avery heran und berührte ihn leicht am Arm. Er zuckte zusammen und quiekte wie ein nervöses Meerschweinchen.

"Ich tu dir nichts." Ich fand es beunruhigend genug, dass ich mit meinem Mitschüler sprach wie mit einem verängstigten Tier. Avery wimmerte noch immer und Tom stand uns gegenüber und fummelte in seiner Umhangtasche wahrscheinlich nach seinem Zauberstab.

"Ich glaube euch ja", sagte ich und wusste nicht einmal selbst, ob das, was ich da gesagt hatte, der Wahrheit entsprach.

"Du wirst niemandem sagen, was wirklich passiert ist", forderte Tom mit ungewöhnlich kalter und emotionsloser Stimme. Er wirkte nicht so, als hätte er eine Leiche in seinem Schlafsaal liegen. Ihm ging es lediglich darum, nicht mein Vertrauen zu verlieren. Annabelle war für ihn nur ein Hindernis, aber kein Leben, das soeben viel zu früh beendet wurde.

Kind Des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt