Kind Des Himmels

Tom Marvolo Riddle

Mit raumgreifenden, zielstrebigen Schritten glitt Tom vor mir durch den langen Gang und ließ mir keine andere Wahl, als ihm mit ebenso schnellen Schritten zu folgen, auch, wenn die meinen wahrscheinlich eher hastig wirkten. Er drehte sich auf der ganzen Strecke nicht einmal um, und trotzdem verspürte ich das Bedürfnis, ihm folgen zu müssen. Wir liefen zahlreiche Treppen nach oben und bogen so oft ab, dass ich irgendwann die Orientierung verloren hatte. Ich hatte absolut keine Ahnung, in welchem Teil oder auf welcher Etage des Schlosses wir uns befanden.

"So", sagte er irgendwann und blieb plötzlich stehen. "Da wären wir."

Ich sah mich um. Der Gang sah aus wie jeder andere im Schloss, ich konnte nichts Besonderes feststellen. Wahrscheinlich war der einzige Grund, dass wir hier waren, der, dass uns hier niemand suchen würde.

"Was gibt es, Tom?", fragte ich mit Nachdruck. Ich hatte eigentlich keine Lust, nach der Nachtruhe mit Tom auf den Gängen erwischt zu werden. Er sollte mir einfach sagen, was er zu sagen hatte. Doch zunächst beließ er es bei einem hämischen Grinsen.

"Ich kenne dein Geheimnis, Noel", sagte er kalt. Kalt und so gefühllos, dass ich eine Gänsehaut bekam.

"A-Achso?", stotterte ich und starrte auf den Boden. Das konnte nicht sein. Das ging nicht. Zoe war die Einzige, der ich davon erzählt hatte und die Lehrer würden doch wohl kaum das intimste Geheimnis eines ihrer Schüler an irgendeinen anderen verraten. Oder?

"Du bist ein Engel", stellte er trocken fest und kam einen Schritt näher. "Und ich, ich bin dein Mensch." Jetzt klang er fast schon ein bisschen siegessicher, wobei ich mir nicht einmal sicher war, um welchen Kampf es überhaupt ging. Sein Grinsen ging zwar von Ohr zu Ohr, erreichte aber seine Augen nicht. Ich war so vor den Kopf gestoßen, dass ich nichts sagen konnte. In meinem Kopf rannten meine Gedanken, Berechnungen und Mutmaßungen miteinander um die Wette. Irgendjemand musste es ihm gesagt haben, sagte ich mir immer wieder. Die Einzige aber, die von der Sache mit Tom wusste, war Zoe. Und Zoe würde das ihm wahrscheinlich eher nicht sagen. Oder?

"Woher weißt du das?", krächzte ich irgendwann.

"Ich habe meine Quellen", murmelte er und sein Lächeln verschwand langsam. "Aber niemand von deinen kleinen Freunden hat es mir gesagt - falls du das jetzt denkst."

Um ehrlich zu sein: ja, das hatte ich zumindest in Betracht gezogen.

"In Ordnung", versuchte ich mit lauter und kräftiger Stimme zu sagen. "War's das dann? Ich würde gern zu Bett."

"Wir wissen beide sehr genau, dass du nicht mehr als zwei Stunden schlafen wirst", sagte Tom eingebildet und grinste dreckig.

"Wohl wahr", brummte ich. "Was hast du mir noch zu sagen? Du wirst mich kaum hierher geholt haben, um mir zu sagen, was ich eh schon weiß, oder?"

"Tatsächlich nicht." Er rieb sich die Hände. "Ich weiß ganz genau, was du machen wirst, warum du hier bist. Du sollst mich vor dem Tod bewahren. Aber lass dir gesagt sein, dass ich bereits Vorkehrungen getroffen habe, damit das nicht passiert. Wir arbeiten für dasselbe Ziel, Noel - meine Unsterblichkeit. Du hast eine große Aufgabe bekommen. Und aus diesem Grund möchte ich, dass du verstehst, warum ich die Dinge tue, wie ich sie tue."

Ich nickte, aber eigentlich hatte ich keine Ahnung. Woher wusste er all diese Sachen denn, wenn nicht von Zoe? Und was für Vorkehrungen sollte er bitte getroffen haben, um sich vor dem Tod zu schützen? Und sprach er tatsächlich von der Unsterblichkeit? Wie durchgeknallt war dieser Typ eigentlich?

"Woran hast du gedacht?", flüsterte ich - was eigentlich ziemlich sinnlos war, denn niemand würde uns hier hören.

"Um Ort und Zeit brauchst du dir keine Gedanken machen", sagte er . "Ich werde mich bei dir melden, wenn ich denke, dass du bereit bist." Mit diesen Worten drehte er sich herum und verschwand mit ebenso raumgreifenden, gleitenden Schritten, mit denen er gekommen war. Und ich blieb allein und verwirrt zurück. Noch nie in meinem Leben war ich so durcheinander gewesen wie zu diesem Zeitpunkt.