Der Tag, an dem ich die Kontrolle verlor

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Sollte ich einen Tag benennen, der mein Schicksal besiegelte, der mir zeigte, wie es wirklich war, ich zu sein, würde ich diesen nehmen. Ohne Zweifel. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, mein Leben als sicher oder in geregelten Bahnen verlaufend zu bezeichnen. Noch immer pochte die Angst in meiner Brust, jemand würde mein Geheimnis entdecken, der Mensch, den ich beschützen sollte, wäre ein Ekel - und bei dem Versuch, ihn zu beschützen, würde ich morden. Und trotzdem, seit ich die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei besuchte, gab es hin und wieder Momente, in denen ich vergaß, wie sehr mein Leben dem Untergang geweiht war. Nie jedoch hätte ich gedacht, dass mein Leben eine so drastische Wendung nehmen könnte.

Unser viertes Jahr in Hogwarts begann, abgesehen von der Tatsache, dass Lioras Anwesenheit uns die Gräuel der Welt vor Augen führte wie es kaum eine Muggelzeitung schaffen könnte, ruhig und entspannt. Professor Dumbledore begann in der ersten Stunde Verwandlung, von unseren ZAGs zu reden und davon, dass wir dieses Jahr nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten, denn es wäre bereits ein Vorbereitungsjahr für unsere Prüfungen. Doch in Verwandlung und Zauberkunst machte ich mir gar keine Sorgen um irgendwelche Prüfungen. Bei beiden Professoren hatte ich inzwischen eine sehr hohe Beliebtheit erreicht und dafür nicht einmal etwas getan. Mein Zauberstab schien ganz allein zu arbeiten. Nur Zaubertränke war nach wie vor noch ein Problemfach. Schlimmer noch, Professor Slughorn brachte meinen Kessel nicht erst raus in den Kerker, sondern ließ ihn bei sich im Vorratsschrank stehen, damit ich nicht auf dumme Ideen kommen konnte (als würde mir das so viel Spaß bereiten, dass ich in meiner Freizeit anfangen würde, Zaubertränke zu brauen). Meistens saßen wir bis spät am Abend zusammen und wiederholten den Unterrichtsstoff des vergangenen Tages, fragten uns gegenseitig ab oder erledigten Hausaufgaben, die die Lehrer uns zu Hauf aufgaben. Die Proben mit dem Schulchor waren fantastisch. Wir sangen sowohl magische als auch Muggellieder und ein paar der Schüler brachten ihre Kröten mit, die den Gesang auf wundersame Weise abrundeten. Außerdem stand ein großer Flügel im Raum, der zwar wunderschön aussah, den aber nie jemand zu spielen schien. Immer wieder lunschte ich dort hin, sagte jedoch nie, was ich wollte und nahm mir fest vor, dem Flügel irgendwann einmal in der Nacht einen Besuch abzustatten.

Es war kaum zwei Monate im neuen Schuljahr, dass Professor Dippet höchstpersönlich im Gemeinschaftsraum der Ravenclaws stand und nach mir rief. Mit seiner stattlichen Größe und dem violetten Umhang wirkte er mehr als fehl am Platz - und außerdem machte es mir Sorgen. War zu Hause alles in Ordnung? Denn welchen anderen Grund könnte er haben, um mit mir zu reden? Mit gesenktem Blick stiefelte ich die Treppe nach unten, Professor Dippet kam sofort zu mir und legte mir einen Arm auf die Schulter. "Mr Snow, Sie sollen sofort nach Hause kommen. Ich denke, es ist wichtig", sagte er, als er seinen Kopf leicht nach unten beugte, um die zwei Sätze so leise zu sagen, dass sie niemand anders hörte. Angstvoll weiteten sich meine Augen und mein Gehirn begann zu arbeiten. Welchen Grund hätten meine Eltern, mich mitten im Schuljahr, dazu noch nicht einmal am Wochenende, nach Hause zu holen? Professor Dippet schien meine Verwirrtheit zu erkennen und schenkte mir ein schwaches Lächeln. "Ich weiß nicht, um was es geht, Noel. Es tut mir sehr leid."

Obwohl ich es am Anfang seltsam gefunden hatte, gesiezt zu werden, löste es nun Unbehagen in mir aus, wenn ein Lehrer mich stattdessen bei meinem Vornamen nannte. Es war, als wollten sie eine Intimität, eine Beziehung simulieren, die es gar nicht gab. Mit Professor Dippet hatte ich bis jetzt nur einmal am Beginn meines ersten Schuljahres gesprochen, seitdem hatte ich ihn nur bei den Mahlzeiten und manchmal auf den Gängen gesehen. Er führte mich durch die stillen Gänge (schließlich saßen alle anderen Schüler jetzt in den Klassenzimmern) bis hin zu seinem Büro. Er reichte mir den Sack mit Flohpulver und drückte ein letztes Mal meine Hand, als sollte mich das irgendwie beruhigen.

"Haus der Snows, Little Hangleton", sagte ich laut, als ich in die grünen Flammen trat.

Etwas ungelenk purzelte ich aus dem Kamin in unserem Wohnzimmer und ungefähr im selben Augenblick wurde ich von jemandem in eine stürmische, feste Umarmung gezogen. "Gott sei Dank", flüsterte Aurora in meine blonden Locken, "du hast es noch geschafft."

Kind Des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt