1 - Neue Mitbewohner werden getötet

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„In dem Zimmer kannst du dich austoben, wie du willst, aber das hier bleibt immer noch eine Männer-WG. Also breite dich nicht im Bad aus, stell keine Cup-Cake-Förmchen in die Küche und wehe ich sehe eine Duftkerze! Verstanden?"

Ich blickte auf das kleine Zimmer, in dem ich ab sofort leben würde. Ehe ich mich hier wohlfühlen würde, müsste erst einmal ein Tagesausflug zu Ikea stattfinden. Die Wände waren weiß. Allerdings nicht so schneeweiß, wie die Haut von Schneewittchen. Sondern eher Gelbweiß, wie die Zähne eines Rauchers und die Wände standen für meinen Geschmack viel zu dicht an einander. Obwohl nur ein Bett, ein Schreibtisch und ein Schrank den Raum füllten, hätte ich hier ein Platzproblem, falls mich mal eine 90er-Phase überkommen sollte und ich das Bedürfnis verspüren würde, den Macarena zu tanzen.

„Verstanden", murmelte ich kleinlaut und stellte meinen Koffer in den Raum.

Flo hatte sich in den letzten Wochen verändert und das nicht nur, weil die Barthaare plötzlich aus seinem Unterkiefer sprießten, als hätte er ein Haarwuchsmittel erfunden, für das ihn alle Halbglatzenträger beneiden würden. Der Bart ließ ihn zwar deutlich älter aussehen, doch am meisten erschraken mich seine Augen. Er hatte dort innerhalb weniger Wochen Falten bekommen, die seine Trauer widerspiegelten. Ich erkannte meinen Bruder kaum wieder, doch seine Trauer verstand ich. Vielleicht war es im Augenblick sogar das einzige, das uns verband.

„Noch irgendwelche Fragen?"

Sein Gesicht sagte mir, dass er keine Frage hören wollte. Es war für ihn wohl schon schlimm genug seine kleine Schwester bei sich wohnen lassen zu müssen. Ich konnte es ja selbst kaum glauben, dass ich plötzlich als naive Schülerin in einer Studenten-WG aus trinkfesten Männern wohnen würde.

„Ja. Ich habe noch eine Frage. Kann ich den Brief lesen?"

Sein Kiefer spannte sich an, sodass sein Adamsapfel hervortrat. Allein an dieser körperlichen Veränderung wusste ich seine Antwort schon bevor er sie ausgesprochen hatte.

„Nein, ich will nicht, dass du ihn liest", kam es mit kalter Stimme zurück.

Es war nicht das erste Mal, dass ich diesen Satz hörte.

„Aber-."

„Kein Aber. Vertrau mir einfach."

Sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass ich mit jedem weiteren Betteln nur noch härter gegen die Wan laufen würde, die er um sich herum gezogen hatte.

„Bekomme ich wenigstens eine Umarmung?"

Für einen kurzen Moment sah ich wieder den Flo, der er noch vor ein paar Wochen gewesen war. Als unser Leben noch nicht vollkommen auf den Kopf gestellt worden war und wir eine gesunde Bruder-Schwester-Hass-Liebe pflegten.

Er kam zu mir und zog mich tatsächlich in eine Umarmung. Doch sie war nur flüchtig. Es war keine Umarmung vor der Sorte Ich-bin-für-dich-da, doch genau so eine hätte ich momentan sehr gut gebrauchen können und er meiner Meinung nach auch. Aber kaum hatte er mich berührt, löste er sich auch schon wieder, als wären wir zwei gleichgepolte Magnete.

„Elyas und Daniel wirst du erst morgen sehen. Die sind feiern."

„An einem Mittwoch?"

„Wir sind Studenten, Ella. Gewöhn dich lieber dran. Falls du erwartest, dass wir uns jeden Abend an den Tisch mit dir setzen, Brot essen und ein paar Möhrchen dazu knabbern, solltest du dir das lieber schnell aus dem Kopf schlagen. So wird es nicht laufen."

Für eine Siebzehnjährige, die eigentlich noch familiäre Stabilität und vor allem ihre Möhrchen am Abend brauchte, waren das harte Worte. Doch ich würde keine Widerworte geben, denn ich war froh, dass er mich hier aufnahm.

GingerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt