20 - Die relativierte Lüge

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„Und jetzt?", fragte Elyas, als wir uns nach einem mehr als leidenschaftlichen Kuss voneinander lösten.

Ich war in diesem Moment glücklich und das war angesichts der letzten Wochen eine willkommene Abwechslung. Ich fühlte mich in seiner Nähe so unglaublich gut. Er sprühte so eine Stärke und Souveränität aus, die jeder Frau weiche Knie verschaffen würde. Er hatte das gewisse Etwas, dem man nicht widerstehen konnte. 

„Was meinst du mit ‚und jetzt'?"

Er zuckte mit den Schultern.

„Na, was machen wir jetzt?"

Wenn es nicht so kalt wäre, könnte ich die ganze Nacht auf diesem Steg rumknutschen. Aber dazu waren meine  Zehen bereits zu taub.

„Klamotten aus und Sex auf dem Steg?"

Er riss die Augen auf.

„Ist es nicht ein bisschen kalt dafür?"

Ungläubig starrte ich ihn an. Vielleicht sollte ich mir von Daniel noch einmal Nachhilfe in Sachen Ironie holen.

Ich stupste mit Zeige- und Mittelfinger gegen Elyas' Stirn.

„Das war ein Scherz, du Idiot!"

Er lachte gekünstelt, denn er hatte meine Ironie definitiv nicht verstanden. Ich war mir nicht sicher, wann ich in seinen Augen das Image einer Sexbesessenen erlangt hatte.

Als ob ich so einen Vorschlag wirklich ernst meinen würde.

„Natürlich", murmelte er. "War von mir ja auch  nicht ernst gemeint."

Ist klar.

Er schien nicht mit der Situation umgehen zu können. Ich musste zugeben, dass es einfacher gewesen war mit ihm Sex zu haben. Gefühle machten ihn so verklemmt. Auf einmal fehlte bei ihm die Lockerheit, die ich sonst so sehr an ihm gemocht hatte. Er wirkte so, als wolle er nichts falsch machen, was auf der einen Seite süß war, auf der anderen Seite aber auch ein bisschen komisch.

„Lass uns einfach zu den anderen beiden gehen", schlug ich vor, weil ich keinen anderen Ausweg aus der seltsamen Situation wusste. Außerdem wollte ich keinen Verdacht erwecken, weil wir zu lange wegblieben. Daniel und Flo sollten von dem, was eben passiert war, lieber nichts wissen.

Ich rappelte mich auf. Elyas griff nach meiner Hand, als ich mich gerade aufgerichtet hatte. 

„Warte noch kurz!", ertönte seine heisere Stimme.

Er stand auf und war somit deutlich größer als ich.

„Was ist?"

Er beugte sich zu mir nach unten und küsste mich noch einmal. Jedoch nur ganz kurz. Trotzdem legte ich meine Hände um seine Hüfte und suchte den Körperkontakt.

„Darf ich das in Zukunft öfter machen?", hauchte er mir ins Ohr und strich mir durch die Haare.

Ich schmunzelte.

„Von mir aus gerne."

Er küsste mich noch einmal.

Das war wohl der Moment, in dem feststand, dass wir so etwas wie ein Paar waren. Jedoch wagte keiner von uns beiden es auszusprechen.

Es war zwar sehr unwahrscheinlich, aber würden wir irgendwann mal heiraten und Kinder haben, dann würden wir ihnen genau von diesem Moment erzählen. Ich würde ihnen erzählen, wie mich ihr Vater mit Glühwürmchen von ihrem Onkel weggelockt hatte und dann unter dem perfekten Sternenhimmel mit seinen perfekten Lippen über mich hergefallen war.

GingerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt