KAPITEL 12 oder Fest der Vortäuschungen

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Jeder wünscht sich stark zu sein. Selbstbewusstsein zu haben und genug Mut zu haben eigene Entscheidungen zu treffen und dabei vollkommen überzeugt davon zu sein, dass man das Richtige tut. Eine Familie zu haben, die einen unterstützt und hinter einem steht, egal was man tut und ob man manchmal an seinen Versuchen das Richtige zu tun scheitert. Betrachtet man mein Leben, so könnte man sagen, dass ich nichts von all dem habe. Ich stehe alleine hier in einem Raum und starre auf mein eigenes Blut, welches den Boden der Weinkammer befleckte. Versuche meine innere Ordnung wieder herzustellen und nicht in meiner eigenen Angst vor meinem Bruder zu ertrinken. Wie in Trance starre ich auf die verbliebenen Zeugen dieses kleinen Kampfes, der eigentlich gar kein richtiger Kampf war, denn dafür müsste man sich gewehrt haben, was ich gegenüber meines Bruders nicht konnte. Ich bewege mich die Treppe hinauf und werfe vorsichtig einen Blick in den Flur. Keine Person weit und breit. Sehr gut. Nicht, dass sich jemand ernsthaft für mich interessieren würde. Ich bin nichts weiter, als eine Ritterin, die nicht gut genug ist für den Beruf ist, den sie inne hat. Eine Prinzessin ohne Familie, Thron und Zuhause. Wie konnte ich ernsthaft auch nur eine Sekunde hoffen, dass ich es schaffen könnte dieser Welt denn Frieden zu bringen? Wenn ich nur nicht so viel Angst vor den Kräften hätte, die mir in den Schoß gelegt wurden. Noch immer unter Schock stehend und völlig kraftlos schleppte ich mich Stück für Stück an der kalten Steinwand entlang. Es war nicht weit zu meinen Zimmern, aber es kam mir vor wie eine kleine Ewigkeit. Schweiß rann meine Stirn hinab, aber nicht etwa weil es hier in den Gängen stickig und fast zu heiß zum Atmen war. Nein, es lag an der Wunde, die unaufhaltsam blutete. Meine Kleidung war klitschnass und klebte durch den Schweiß und das viele Blut an meinem zitternden Körper. Ich konnte kaum noch aufrecht stehen. Mit meiner rechten Hand stützte ich mich mehr schlecht als recht an der Wand ab, mit der anderen versuchte ich die Blutung zu stoppen, was mir auch nicht gerade gut gelang.

Immer wieder drehten sich meine Gedanken um meinen Bruder. Egal wie sehr ich ihn nun auch nur für wenige Minuten aus meinem Kopf verbannen wollte, da ich ganz andere Probleme hatte, konnte ich nicht aufhören an den Mann zu denken, mit dem ich meine gesamte Kindheit in den selben Hallen des selben Schlosses verbracht hatte. Nevary hatte sich so sehr verändert seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nicht den Hauch einer Chance gegen meinen kleinen Bruder hatte. Er hatte seine Fähigkeiten als Magier ausgebaut und so brauchte er noch nicht mal die Kraft des Drachens, um einen Menschen mit einem Wink durch die Luft zu schleudern.

Das Volk hatte recht. Sie konnten ihre Hoffnungen nicht in mich legen. Ich war ein jämmerliches Nichts. Es würde mich nicht wundern, wenn es bald zu einem Volksaufstand kommen würde. Doch würden ein paar Tausend wütende Menschen einen Mann aufhalten, der mehr Wissen über Magie hatte als sonst ein Wesen auf dieser Welt?

Nur ich war ihm ansatzweise ebenbürtig oder der Drache Arokh, der von den anderen Elementen verbannt worden war. Doch dass dieser nach dem Tod seiner ganzen Widersacher nicht aufgetaucht war, um ganz Agäa zu unterjochen und endlich das zu vollbringen, was er doch vor Jahrtausenden wollte, sagte mir, dass auch er Angst vor Nevary hatte und dieser selbst einem Drachen, der länger auf dieser Welt lebte, als man es sich auch nur im geringsten vorstellen konnte, Angst einjagte. Insgeheim wusste ich bereits seit dem Tag, an dem Nevary davon gesprochen hatte, dass wir beide Götter sein sollten, dass meine Drachenseele das einzige war, was Nevary besiegen könnte. Doch ich fühlte mich nicht bereit. Für gar nichts.

Endlich hatte ich mein Ziel erreicht und öffnete mit der Hand, die nicht komplett bluterschmiert war, die Tür zu meinen Zimmern und schickte die verdutzten Dienerinnen weg. Diese hatten mir natürlich sofort helfen wollen, aber ich konnte gerade niemanden in meiner Nähe ertragen. Völlig am Ende ließ mich auf den Boden sinken. Tränen rannen meine erhitzten Wangen hinab und vermischten sich mit dem Blut, welches überall an mir klebte.

Time to Reign - Die Geschwister✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt