Kapitel 15

91 7 0
                                    

Aber so erkannte ich sie gar nicht wieder. Sie zeigte mit zusammengekniffenen Augen auf James. "Du!", rief sie und legte eine kurze dramatische Pause ein, schauspielern konnte sie also auch, ich war beeindruckt. "Jason, oder wie auch immer du heißt. Du bringst Cameron jetzt nach Hause und sorgst dafür, dass sie was isst. Haben wir uns da verstanden, Freundchen?", letzteres war mehr eine rhetorische Frage. Das war doch nicht die schüchterne Sue, die ich am ersten Schultag kennengelernt hatte. Der Angesprochene hingegen nickte nur lässig und deutete mir mit dem Kopf an ihm zu folgen, was ich, unter den strengen Blicken von Sue, auch tat. James blieb bei seinem Motorrad stehen und setzte sich den Helm auf. Mit einer Handbewegung forderte er mich dazu auf, auf dem Motorrad Platz zu nehmen, und dies ließ ich mir nicht zweimal sagen. Als wir uns meinem Haus näherten begannen schwarze Punkte in meinem Sichtfeld herum zu tanzen, was ziemlich verwirrend wirken kann, wenn man versucht, nicht von einem Motorrad zu fallen. Ich war heilfroh als James vor meinem Haus parkte und hüpfte sofort von seiner Maschine. Leider hatte ich meinen Gesundheitszustand nicht miteinbezogen, weshalb ich prompt auf meinem Allerwertesten landete. Ein weiterer negativer Punkt, daran ein verpixeltes, sich drehendes Bild vor Augen hat. James ließ sich absichtlich Zeit damit seinen Helm abzusetzen und seinen Schlüssel abzuziehen, denn als er neben mir stand, hatte ich schon unzählige vergebliche Versuche aufzustehen hinter mir. Er seufzte und half mir hoch. Bevor ich mich jedoch bedanken konnte, hatte er mich schon hochgehoben und zur Haustür getragen. "Diese paar Meter hätte ich auch alleine geschafft", zickte ich ihn an. Immerhin war ich ja eine selbstständige junge Frau, zumindest in meinen Augen. "Klar hättest du das", antwortete er sarkastisch. Ich glaubte mich verhört zu haben. Der gefühlskalte James, der normalerweise nur monoton antwortete hatte tatsächlich Sarkasmus benutzt. "Der Haustürschlüssel und der Garagenschlüssel sind Ident", seufzte ich um die entstandene Stille zu brechen. Anscheinend hatte er seinen Wortschatz aufgefrischt, denn er verstand scheinbar jedes meiner kompliziert gewählten Wörter. Es dauerte nicht lange und James hatte die Tür augesperrt. Mit vereinten Kräften schleppte ich mich ins Wohnzimmer und warf mich auf die Couch. "Ich mach dir Suppe", verkündete James und verschwand in Richtung Küche. Zum einen fand ich es erstaunlich, dass James mir etwas kochte, auch wenn es nur Suppe war und zum anderen hoffte ich inständig er würde die Suppe nicht aufessen, bevor ich etwas essen konnte. Während James kochte, krabbelte ich durch das halbe Wohnzimmer um mir eine Decke zu holen. Ich musste wohl ziemlich lang gebraucht haben, denn als ich endlich in die Decke eingewickelt auf dem Sofa saß, betrat James den Raum und überreichte mir eine Kaffeetasse, welche er mit Suppe vollgefüllt hatte, und einen Löffel. Ich bedankte mich bei ihm und begann langsam das Gebräu zu löffeln. Es schmeckte überraschenderweise ziemlich gut. Etwas zu essen war doch sehr anstrengend für mich, da mein Körper total ausgelaugt war und mein Magen heftig randalierte. "James, mir ist kalt", sagte ich leise, nachdem ich die leere Tasse auf den Tisch gestellt hatte. "Nebenwirkung vom Kreislaufzusammenbruch", antwortete er. Ich konnte nicht mehr normal denken und nur noch schwer die Augen offen halten. "Legst du dich zu mir?", fragte ich mit flehender Stimme. Er seufzte, legte sich dann aber wirklich zu mir auf die Couch. Ob aus Mitleid, oder nicht, wenigstens ging mein Plan auf. James war warm, wie ein Wärmekissen, und so konnte ich ohne vor Kälte zu zittern einschlafen, außerdem hatte es noch einen praktischen Nebeneffekt. Es war ein willensschwacher Moment und somit würden mir Teile seiner Geschichte im Traum erscheinen. Bevor ich ganz weg war murmelte ich noch "Dankeschön" in mich hinein. Die Teile seiner Geschichte konnte ich nur leider, wie befürchtet nicht deuten, da sie total unzusammenhängend waren. Was mir zudem auffiel war, umso mehr ich mich mit James und seiner Geschichte befasste, desto weniger andere Geschichten bekam ich zu Gesicht. Ich nahm mir einfach vor, meine Mutter danach zu fragen, wenn sie wiederkommen würde. Als ich aufwachte, musste ich nach einem Blick auf die Uhr feststellen, dass ich einen ganzen Tag durchgeschlafen hatte. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Zettel, den ich mir natürlich sofirt schnappte. Irgendwie kam ich mir wie nach einem One-night-Stand vor, alles wirkte so klischeehaft und inszeniert. Das, was auf dem Zettel stand, passte allerdings nicht so ganz in dieses Bild. James hatte einfach nur in Großbuchstaben das Wort 'Essen' draufgekritzelt. Wortkarg wie immer.

The Stories behindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt